60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
hier bekommt eine gute Zelle“, gebot der Assessor. „Es ist die Schwester des gefangenen Robert Bertram. Schaffen Sie sie fort! Sie scheint sehr erschrocken zu sein.“
Der Wachtmeister versuchte sein Heil.
„Sapperment, das geht nicht“, sagte er dann. „Sie ist ganz steif; sie kann sich nicht bewegen. Da muß ich den Schließer holen!“
Er ging und brachte den Genannten herbei. Beide trugen Marie fort. Sie war nicht ohnmächtig, aber sie war doch ohne Leben. –
Seidelmann war nicht nur Vorsteher der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Er trachtete auch nach anderen Ämtern, welche geeignet waren, ihn in den Geruch der Frömmigkeit zu bringen. Darum hatte er sich auch um die Almosenpflegerschaft beworben, und darum war er auch in das Chor der Adjuvanten getreten. Nach und nach hatte er es auch zum Vorsteher dieser Korporation gebracht.
Am anderen Tag besuchte er den Pfarrer Matthesius. Dieser saß an seinem Studiertisch und memorierte die Leichenpredigt, welche er zu halten hatte. Als es klopfte, war er anfangs ungehalten über die Störung, als er jedoch Seidelmann eintreten sah, glättete sich seine Stirn, die sich bereits in Falten gelegt hatte.
„Ah, Sie!“ sagt er. „Ich dachte, daß es jemand anderes sei.“
„Ja, ich bin es, Herr Pastor! Darf ich stören?“
„Treten Sie näher! Sie wissen ja, daß Sie mir niemals eine Störung bereiten. Setzen Sie sich! Was bringen Sie mir?“
„Ich komme mit einer hochwichtigen Frage!“
Er machte dabei ein Gesicht, nach welchem man allerdings überzeugt sein mußte, daß die Frage eine hochwichtige sei.
„Sprechen Sie, mein Lieber!“
„Darf ich fragen, welchen Text Sie Ihrer heutigen Leichenrede zugrunde zu legen beabsichtigen?“
„Oh, gewiß. Ich habe mir gesagt, daß wir mehrere Seelen zu retten haben –“
„Verlorene Seelen“, nickte Seidelmann verständnisvoll.
„Daß Verbrecher bei der Leiche stehen werden –“
„Um ein Geständnis abzulegen!“
„Und daß ihre Verbündeten herbeiströmen werden –“
„Um dem, was sie ein Schauspiel nennen werden, beizuwohnen. Da werden kommen die Moabiter und Amalekiter, die Midianiter und Hethiter. Sie werden kommen von Norden und Süden, von Osten und Westen. Es werden kommen die verborgenen Sünder und Verbrecher, die Untergebenen des ‚geheimen Hauptmanns‘ und wohl gar er selbst. Da gilt es, ein Wort zu sprechen, welches wie Blitz und Donner unter sie fährt, welches ihre Herzen zermalmt und ihre Seele zerschmettert. Es gibt da nur einen einzigen Text.“
„Jedenfalls ist es derjenige, den ich ausgewählt habe!“
„Ich bin begierig, es zu erfahren!“
„Matthäus 3, Vers 7 bis 12.“
„Ja, ja! Das ist es! Ihr Otterngezücht, wer hat euch denn gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet?“
„Gehet zu! Tut rechtschaffene Früchte der Buße!“
„Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt!“
„Darum, welcher Baum nicht gute Früchte bringt, der wird abgehauen und in das Feuer geworfen!“
„Und er hat seine Wurfschaufel in der Hand, er wird seine Tenne fegen!“
„Er wird den Weizen in seine Scheuern sammeln, die Spreu aber wird er verbrennen mit ewigem Feuer!“
Der Pfarrer war ganz begeistert für sein Thema. Er meinte es jedenfalls sehr ernst. Er wußte, daß der Sohn an den Sarg des Vaters geführt werden solle, um zum Geständnis bewegt zu werden. Er wollte das Seinige dazu beitragen, den verstockten Verbrecher, denn dafür hielt er ihn, zu erweichen. Und er war auch wirklich überzeugt, daß die geheimen Untergebenen des ‚Hauptmanns‘ sich einfinden würden. Auch an sie sollten seine Worte gerichtet sein. Das war seine ehrliche Absicht.
„Sie werden die Bösen zerknirschen, wie der Sand unter den Füßen zerknirscht!“ meinte Seidelmann. „Aber welches Lied haben Sie zu dieser Rede ausgewählt, Herr Pastor?“
„Wie es zu dieser Gelegenheit nur einen einzigen Text gibt, so ist auch nur ein einziges wirklich passendes Lied vorhanden!“
„Ich errate!“
„Nun?“
„O Ewigkeit, du Donnerwort!“
„Ja, das ist es. Keines paßt so gut, denn kein anderes ist so schwer, so gewaltig, so niederschmetternd. Es ist gut, daß Sie selbst kommen. Da brauche ich Ihnen den Zettel nicht zu schicken, mein lieber Herr Seidelmann. Wir singen den ersten, dritten, achten und neunten Vers. Wollen Sie sich das notieren!“
„Gewiß! Ich freue mich, daß wir dem Wort vom ewigen Gericht einmal Gelegenheit geben,
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