60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
bemerkte es nicht. Der Assessor fuhr fort:
„Heucheln Sie keine Krankheit, welche Sie nicht besitzen! Sie stehen vor einem Toten. Hier! Erkennen Sie ihn?“
Er schlug das Tuch von der Leiche fort. Robert blickte nicht auf und bewegte sich auch nicht.
„Näher!“ gebot der Gerichtsdirektor.
Als der Gefangene auch diesen Befehl überhörte, trat einer der zwei Begleiter herbei, um ihm einen Stoß zu geben. Dabei berührte er mit der einen Hand den Rücken und mit der anderen den Kopf des Gefangenen. Sofort stieß der letztere einen Schmerzensschrei aus, fuhr sich mit der Hand nach dem Kopf und erhob erschrocken die Augen. Sein Blick fiel auf die Leiche.
Alle waren gespannt, was jetzt geschehen werde. Aber sie hatten sich getäuscht. Er betrachtete den Toten mit irrem Blick und gab keinen Laut von sich, welcher hätte verraten können, daß er den Vater erkenne.
„Wer ist dieser Mann?“ fragte der Assessor.
Auch jetzt erhielt er keine Antwort. Darum warf er einen fragenden Blick auf den Gerichtsdirektor. Dieser sagte:
„Fort mit ihm! Kehren wir zurück!“
Aber als er dann mit den beiden anderen wieder in der Droschke saß, meinte er:
„Was sagen Sie, Doktor?“
„Er ist wirklich geistig gestört.“
„Könnten Sie das beschwören?“
„Beschwören? Hm! Das möchte ich nun gerade nicht wagen, wenigstens jetzt noch nicht. Freilich habe ich viele Geisteskranke behandelt, und es will mir ganz unmöglich scheinen, daß ein junger, unerfahrener Mensch uns zu täuschen vermöchte!“
„Oh, lieber Doktor, wir haben noch jüngere Verbrecher kennengelernt, welche raffinierter waren als ein Alter!“
„Aber er hätte doch nicht in dieser Weise an sich halten können! Es ist selbst für den verstocktesten Bösewicht nichts Kleines, den Vater so plötzlich als Leiche vor sich zu sehen.“
„Ich gebe Ihnen recht, fühle mich aber doch noch nicht beruhigt. Ich werde noch ein Zweites versuchen, dann erst kann ich mir ein richtiges Urteil bilden.“
„Darf man fragen?“
„Gewiß! Morgen wird der Tote beerdigt. Die Kinder müssen dabei sein, der Sohn auch!“
„Ah!“
„Ja, der Sohn auch. Läßt auch das ihn so ganz und gar gleichgültig, so werde ich überzeugt sein, daß er nicht simuliert.“
„Für einen wirklichen Simulanten wird es morgen leichter sein, unbeweglich zu bleiben, als heute, wo er die Leiche so plötzlich erblickte!“
„Aber die Feier, die Feier! Der Fall ist ein ganz außerordentlicher. Tausende von Menschen werden sich auf dem Friedhof einfinden. Der Eindruck muß ihn überwältigen, falls er sich verstellt. Oder haben Sie als Arzt Bedenken?“
„Nicht die mindesten. Ich werde natürlich dabei sein. Hier aber bitte ich, mich aussteigen zu lassen. Ich habe einen Patienten in der Nähe und kann mir also den Weg ersparen.“
Er verabschiedete sich von den beiden anderen Herren, welche nach dem Gerichtsgebäude zurückkehrten. Dort wurde Robert wieder nach seiner Zelle gebracht und angekettet. Er ließ sich das ohne Sträuben gefallen und sank dann auf das Strohlager nieder wie einer, welcher keinen einzigen Gedanken hat.
Der Assessor fand Seidelmann mit Marie Bertram bereits vor. Das Mädchen hatte sich in so kurzer Zeit sehr verändert. Das Auge des Beamten streifte sie mit forschendem Blick; dann winkte er Seidelmann, bei ihm einzutreten.
Der fromme Vorsteher befand sich über eine Viertelstunde lang in dem Verhörzimmer. Als er herauskam, hatte sein Gesicht den demütig selbstbewußten Ausdruck eines Gläubigen, dem es gelungen ist, den Antichrist zu besiegen. Er griff nach seinem Hut und entfernte sich, ohne einen Blick auf Marie zu werfen.
„Nun, Herr Seidelmann?“ fragte der Wachtmeister, indem er auf das Mädchen deutete.
Der Gefragte zuckte die Achsel und antwortete stolz:
„Geht mich nichts an!“
Damit war er zur Tür hinaus. Bereits eine Minute später wurde Marie zu dem Assessor beschieden. Er warf abermals einen forschenden, doch nicht unfreundlichen Blick auf sie und fragte:
„Sie heißen?“
Sie stand zitternd vor ihm und hob die Augen zu ihm auf, wie eine Taube, welche den Habicht vor sich hat. Doch antwortete sie nicht.
„Wie heißen Sie?“ wiederholte er.
„Marie Bertram“, antwortete sie jetzt so leise, daß er es kaum zu verstehen vermochte.
„Wie alt?“
Er sprach die gewöhnlichen Fragen aus, mußte aber jede einmal oder auch mehrere Male wiederholen, ohne daß er hätte behaupten können, daß sie böswillig schweige.
„Haben
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