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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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von Fräulein von Hellenbach gerufen wurden. Die beiden Polizisten, welche an der hinteren Tür Wache standen, haben sie deutlich gehört. Wollen Sie die Güte haben, zu versuchen, ob ihm noch irgend etwas zu entlocken ist, Herr Doktor?“
    Der Arzt trat wieder näher zu dem Gefangenen heran und fragte:
    „Wer ist der Bösewicht, den Sie meinen?“
    Aber der Gefragte antwortete nicht. Es war, als ob er gar nicht wisse, daß Menschen in der Nähe seien. Der Doktor wiederholte seine Frage, und als dies abermals keinen Erfolg hatte, legte er ihm die Hand abermals auf dieselbe Stelle des Kopfes. Da fuhr Bertram auf, ballte die Fäuste und brüllte:
    „Zurück, oder ich ermorde dich! Du sollst ihr nicht ein einziges Haar ihres Hauptes krümmen!“
    Er blickte wild um sich. Seine Augen leuchteten, wie diejenigen eines Menschen, der sich in der größten Aufregung befindet.
    „Wem soll kein Haar gekrümmt werden?“ fragte der Arzt.
    „Ihr, der Nacht, Nacht, Nacht!“
    „Wer ist das?“
    „Wer? Wißt Ihr das nicht?“
    Er machte ein Gesicht, in welchem sich die größte Verwunderung aussprach, und fuhr dann fort:
    „In ihren dunklen Locken blühn
Der Erde düftereiche Lieder;
Aus ungemess'nen Fernen glühn
Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
Und traumbewegte Wogen sprühn
Der Sterne goldne Opfer nieder.“
    Er hob das bleiche, aber erregte Gesicht nach oben, als ob er das funkensprühende Firmament des Südens erblickte, und fuhr dann fort:
    „Und bricht der junge Tag heran,
Die Tausendäugige zu finden,
Läßt sie das leuchtende Gespann
Sich durch purpurne Tore winden,
Sein Angesicht zu schau'n und dann
Im fernen Westen zu verschwinden.“
    Jetzt sank er langsam und mit sich schließenden Augen wieder auf das Stroh zurück. Der Arzt fragte:
    „Kennen Sie diese Verse, Herr Assessor?“
    „Natürlich! Es ist ‚Die Nacht des Südens‘ aus der Gedichtsammlung des berühmten Hadschi Omanah.“
    „Er kann sie auswendig. Er verbindet mit dieser Nacht des Südens irgendwelche Gedanken und Begriffe; wer aber weiß, welche?“
    „Er ist verrückt!“
    „Ich vermute, daß er geistig gestört ist. Vielleicht infolge eines plötzlichen Schrecks, vielleicht auch infolge – ah, da fällt mir ein: Nicht wahr, sein Vater ist gestorben?“
    „Ja, ganz plötzlich, vor Schreck.“
    „Weiß er es?“
    „Nein.“
    „Man sollte ihn zu der Leiche führen!“
    „Das ist allerdings ein frappanter Gedanke! Selbst wenn seine geistige Verwirrung nur simuliert sein sollte, läßt sich annehmen, daß der plötzliche, unerwartete Anblick der Leiche seines Vaters ihn so packen werde, daß er die Maske nicht fest zu halten vermag.“
    „Das ist wahrscheinlich. Aber ich möchte behaupten, daß er sich nicht verstellt. Sein Zustand ist nicht simuliert. Grad deshalb erwarte ich, daß der Anblick der Leiche ihn zu sich bringen wird.“
    „So wollen wir nicht säumen, Herr Bezirksarzt!“
    „Ich habe sofort Zeit und stehe zur Verfügung. Der Fall ist ein über alle Maßen interessanter. Aber, müssen wir uns nicht vorher die Genehmigung erbitten?“
    „Bei dem Herrn Gerichtsdirektor, ja. Ich bin überzeugt, daß er sich sofort selbst anschließen wird. Wir brauchen zwei Droschken: Die eine ist für uns und die andere für den Inkulpaten mit seiner Bewachung. Kommen Sie!“
    Die Herren verließen die Zelle, welche der Schließer hinter ihnen wieder schloß. Als sie die Gefängnisräume verlassen hatten und den Wartesaal des Gefängnisgebäudes betraten, erhob sich dort – Seidelmann von einem Stuhl. Er trat auf den Assessor zu, grüßte sehr höflich und salbungsvoll und sagte:
    „Ich kam soeben nach Hause und fand einen Bestellzettel vor, welcher Ihre Unterschrift trägt, Herr Assessor.“
    „Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen. Sie waren in der Familie des Schneiders Bertram anwesend, als dieser starb?“
    „Ja, ich war Zeuge seines plötzlichen Tods. Der Herr ist ein gerechter Richter aller Lebendigen und Toten.“
    „Sie kennen die Familie näher?“
    „Gewiß, denn ich bin Armenpfleger dieses Distrikts und zugleich Privatbeistand in geistlichen Angelegenheiten.“
    „Ich höre, daß Sie Vormund der Waisen sind?“
    „Der Herr hat mich würdig befunden für dieses höchst verantwortungsvolle Amt.“
    „Die kleineren Kinder befinden sich jetzt, wie man mir sagt, im Waisenhaus. Nun gibt es aber eine größere Tochter. Wo ist diese?“
    „Herr Assessor, an diesem Mädchen habe ich bereits erfahren, welche Last ich auf mich

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