60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
mit!“ rief Fanny.
„Kind! Tochter!“ warnte der Vater.
„Durchlaucht“, wendete sie sich energisch an den Fürsten, „ich halte Sie beim Wort! Sie werden mich abholen!“
„Gewiß! Ich hoffe, Ihre Eltern werden es gestatten!“
„Ich werde meine Erlaubnis nun allerdings nicht länger verweigern“, antwortete der Oberst; „aber wissen müßte ich gewiß, daß Bertram wirklich Hadschi Omanah ist.“
„Und wenn er es nicht ist, soll er da nicht gerettet werden dürfen?“ fragte der Fürst. „Der Anblick von Fräulein Fanny, die er in seinem letzten lichten Augenblick gesehen hat, muß notwendigerweise von Einfluß auf ihn sein.“
„Man bringe ihn her!“
„Herr Oberst!“ bat der Assessor.
„Gut, ja gut! Ich habe nichts dagegen!“
„Man sollte morgen früh den Buchhändler Zimmermann in die Zelle führen“, bemerkte der Fürst. „Er müßte ihn rekognoszieren.“
„Ich würde das veranlassen“, antwortete der Assessor. „Leider aber weiß ich, daß er verreist ist. Man muß also warten. Doch hoffe ich, daß ihm morgen die Überraschung sein Bewußtsein zurückbringt!“
Er hatte seine Sendung erledigt und verabschiedete sich. Auch der Fürst ging nach einiger Zeit. Er sah, in welcher inneren Aufregung sich Fanny befand; er sah dann die Gesichter ihres Vaters und ihrer Mutter umdüstert und winkte den beiden Milde und Schonung zu.
Als Fanny dann sich in ihrem Zimmer befand, trat sie an das Fenster und blickte nach dem düsteren Hinterhaus hinüber. War es in Wirklichkeit, daß da drüben die funkensprühenden Gedichte entstanden waren, welche alle Welt begeisterten? Sie fühlte ein tiefes, unbeschreibliches Weh in ihrem Herzen. Sie weinte und weinte ohne Unterlaß. Es war, als ob ihr ganzes Wesen sich in Tränen auflösen wolle; dann klang es lind und leise, wie aus weiter Ferne zu ihr herüber, was sie selbst komponiert hatte:
„Du meine süße Himmelslust,
O traure nicht und laß das Weinen;
Dir soll ja stets an treuer Brust
Die Sonne meiner Liebe scheinen!“
Ihre Tränen flossen langsamer; sie versiegten endlich; aber noch lange, lange Zeit saß das schöne Mädchen angekleidet auf dem Rand ihres Betts, den traurigen Blick durch das Fenster gerichtet. In ihrem Herzen war es jetzt still geworden, obgleich ein zwar leises aber tiefes Weh sich um dasselbe legte. Doch neben diesem Weh wurde, ihr fast unbemerkt, ein Gefühl des Stolzes wach. Sie war die Nacht, die herrliche, lichtfunkelnde südliche Nacht; sie war es, die den Dichter zu dieser unvergleichlichen Schilderung begeistert hatte, sie war es, von welcher er geschrieben hatte:
„Und ihres Diadems Azur
Erglänzt von funkelnden Kristallen.“
War sie wirklich so schön? Hatte sie diese Begeisterung eines gottbegnadeten Dichters verdient? Sie fragte es sich nicht, und sie sagte es sich nicht; aber sie senkte in Demut das schöne Haupt und faltete die Hände.
Durfte man das, was sie beim Gedanken an Bertram fühlte, Liebe nennen? Nein und abermals nein. Sie war die hochgeborne Tochter der Aristokratie, und er war der Sohn des armen, vor Schreck gestorbenen Schneiders. Die Kluft, welche zwischen beiden lag, ließ gar keinen Gedanken an irgendwelche tiefere Sympathie aufkommen. Aber doch, doch und doch war er nicht nur der Schneidersohn, nicht nur das arme Kind des Proletariats, sondern er war auch Hadschi Omanah, der Dichter der ‚Heimat-, Tropen- und Wüstenbilder‘. –
Kurz nachdem der Fürst sich von Baronin Ella verabschiedet hatte, war der Baron, ihr Mann, bei ihr eingetreten. Ein eigentümliches Lächeln spielte um seine Lippen, als er sagte:
„Du hattest Besuch?“
„Ah, du hast spioniert!“ antwortete sie.
„Du bedienst dich da eines höchst unpassenden Ausdrucks. Man braucht nur ganz zufällig am Fenster zu stehen, um die Equipage deines Anbeters zu bemerken!“
„Vielleicht bete ich ihn mehr an, als er mich!“ bemerkte sie pikiert.
„Nun, so betet einander nach Kräften an. Ein bißchen mehr oder weniger wird keinen allzu großen Unterschied machen. Nur stelle ich die Bedingung, daß es nicht bei der bloßen Anbetung bleibe!“
„Es fragt sich, ob ich mir die Bedingungen gefallen lasse; der Fürst nun wohl ganz und gar nicht.“
Er ließ sich bequem in einen Sessel nieder, richtete das Lorgnon auf sie, betrachtete sie unablässig aufmerksam und sagte:
„War er nicht liebevoll genug?“
„Pah! Du erwartest doch wohl nicht eine Antwort?“
„Nein, denn ich kenne dich. Aber du bist so
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