60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
rechtzeitig zurückzuziehen, blieb sie furchtlos stehen. Ihr Gesicht war dem Baron zugewendet. Sie war nicht mehr ganz jung, aber ihre Züge waren regelmäßig und einnehmend, und die dünne, sommerliche Kleidung war nicht imstande, die Schönheit ihres reizend gezeichneten Körpers zu verhüllen. Dies bestärkte den Baron in seinem Vorhaben.
„Ah! Guten Abend!“ sagte er in einem Ton, welcher darauf berechnet war, Vertrauen zu erwecken. „Was tun Sie hier, mein Fräulein? Wissen Sie nicht, daß es für junge Damen gefährlich ist, zu so später Zeit sich an solchen Orten zu bewegen?“
„Die Armut kennt keine Gefahr, mein Herr“, antwortete sie. „Gute Nacht!“
Sie wendete sich ab, um sich zu entfernen; er aber legte die Hand an ihren Korb, so daß sie stehenbleiben mußte, und sagte in einem Ton, welcher sympathisch an ihr Ohr klang:
„Die Armut. Ah, diese hat ein Recht gehört zu werden. Ich habe leider oft Gelegenheit, mit ihr zu verkehren. Mein Gott, wie frieren Sie! Ich glaube gar, Sie sind ausgegangen, um heimzutragen, was andere weggeworfen haben!“
Sie senkte den Kopf und antwortete: „Leider ist es so!“
Da nahm er ihr halb mit Gewalt den Korb aus der Hand, blickte und griff hinein und sagte dann mit gut gespieltem Entsetzen:
„Einige erfrorene Kartoffeln nebst verfaulten Äpfeln und einigen Stückchen Holz! Ist das möglich! Was wollen Sie mit diesen Gegenständen beginnen?“
Sie fühlte sich tief beschämt. Aber er sprach so mild und eindringlich zu ihr; in seinem Ton lag eine so warme, menschenfreundliche Teilnahme, daß sie doch antwortete:
„Der Hunger tut weh, mein Herr, und wo die Krankheit ihren Einzug hält, da gibt es keine Wahl!“
„Hunger und Krankheit! Mein Himmel, da ist es ja Menschenpflicht, an Hilfe zu denken! Ich bin Arzt, Fräulein. Bitte, wollen Sie Vertrauen zu mir haben?“
Sie blickte zagend und fragend zu ihm empor. War es schwer oder leicht, einem fremden Mann, welcher ihr an diesem Ort und zu dieser Stunde begegnete, Vertrauen zu schenken? Die Not und die Sorge gaben ihr nicht die Erlaubnis der Wahl; sie antwortete: „Sie sind Arzt? Ja, Ärzte pflegen über die Armut anders zu denken als andere Menschen. Man trägt das Unglück gern und möglichst lange Zeit im stillen; aber wenn es zu schwer wird, dann ist es Sünde, die Hilfe, welche so freundlich angeboten wird, zurückzuweisen. Ich bin Näherin, mein Herr, kann aber seit einiger Zeit kaum mehr arbeiten, weil ich meine Augen zu sehr angestrengt habe.“
„Haben Sie Verwandte?“
„Einen Vater und einen Bruder. Der letztere ist schwachsinnig und kann nichts verdienen, und der erstere – mein Gott!“
Sie hielt inne, um sich mit dem dünnen Tuch, welches sie um sich geschlagen hatte, nach den Augen zu fahren.
„Schmerzen Ihre Augen?“ fragte der Baron.
„Sehr! Sie können die Kälte nicht vertragen, und daheim haben wir so lange Zeit nicht mehr geheizt.“
„Warum wenden Sie sich nicht an Ihre Nebenmenschen?“
„Oh, grad die Menschen, welche neben einem wohnen, sind einem so sehr fremd und fern!“
„Oder an die Armenbehörde!“
„Vater wollte noch immer nicht!“
„Warum nicht? An der Spitze dieser Behörde steht ein höchst menschenfreundlicher Herr, der Baron von Helfenstein.“
„Grad vor ihm hat man uns gewarnt. Vor ihm und dem Vorsteher Seidelmann, welcher die rechte Hand des Barons ist.“
„Das begreife ich nicht. Was ist Ihr Vater?“
„Früher war er Wachtmeister der hiesigen Gefangenenanstalt. Er hatte einst das Unglück, daß ihm ein Doppelmörder entsprang, den er nach dem Zuchthaus zu transportieren hatte, und darum wurde er entlassen. Er erhielt eine kleine Anstellung bei der Bahn –“
„Ein Doppelmörder?“ fiel der Baron ein. „Wissen Sie vielleicht den Namen desselben?“
„Er wird mir unvergeßlich sein. Ich war damals nur ein kleines Mädchen; aber von da an begann das Unglück. Das vergißt man nicht. Der Flüchtling war ein Försterssohn namens Gustav Brandt; er hatte den Baron von Helfenstein und den Hauptmann von Hellenbach ermordet.“
„Ah! So! Ah! Also Ihr Vater wurde dann bei der Bahn angestellt. Was geschah weiter?“
„Das Unglück brach noch größer über uns herein als vorher. Mein Vater wurde überfahren; er verlor ein Bein und eine Hand. Ein Gesetz für Haftpflicht gab es nicht. Man gewährte ihm freie ärztliche Behandlung und dann wies man ihn fort. Seit jener Zeit wohnen wir hier auf der Wasserstraße.“
Warum erzählte
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