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600 Stunden aus Edwards Leben

600 Stunden aus Edwards Leben

Titel: 600 Stunden aus Edwards Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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Sandstein darunter, und dahinter ist nur dunstige Finsternis.
    Dann spüre ich, wie ich falle. Nur dass das nicht ich bin.
    Er ist es. Kyle. Ich kann sein Gesicht sehen, während er fällt, und ich weiß, dass sein kleiner Körper auf die Felsen aufschlagen wird, von denen ich vermute, dass sie unterhalb liegen, auch wenn ich keine Vermutungen mag. Schwarze Angst erfasst mich.
    Und plötzlich greift eine Hand vor und packt Kyle am Handgelenk. Es ist meine Hand, und ich spüre den Ruck in meiner Schulter, als sein Fall gestoppt wird.
    »Hilf mir, Edward!«, ruft er.
    »Ich hab dich«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und strenge mich an, sein Handgelenk festzuhalten. Ich liege flach auf dem Bauch, mein Kinn ragt über den Klippenrand, und meine Füße scheuern über den Felsen hinter mir, während ich Halt suche.
    »Ich rutsche!«
    »Ich hab dich!«
    Und dann habe ich ihn nicht mehr. Die Gravitationskraft zieht ihn aus meinem Griff und reißt ihn in den sicheren Tod und …

    Ich bin wach.
    Ich bin auf.
    Und ich bin draußen.
    Ich weiß nicht, wie spät es ist.
    Meine Daten sind nicht vollständig.

    Als ich am Steuer meines 1997er Toyota Camry sitze, bemerke ich drei Dinge. Erstens, es ist 7:40 Uhr. Zweitens, das Behr Mokkabraun an der Garage vor mir sieht grässlich aus. Drittens, ich trage mein 1999er R.E.M.-T-Shirt ihrer
Up
-Tour und meine blau-rot gestreifte Schlafanzughose. In diesen Sachen schlafe ich. Ich trage keine Schuhe.
    Es ist mir egal.

    Von dem Haus aus, das mein Vater gekauft hat, ist der Weg bis zur
Billings Clinic
ganz einfach: rechts auf die Clark Avenue und bis zur 6th Avenue West, links auf die 6th bis zur Lewis Avenue, rechts auf die Lewis bis zum Broadway, links auf den Broadway bis zum Krankenhaus. Ich kann in fünf Minuten da sein. Mein Magen rumort, und das kommt nicht vom Linksabbiegen.

    Am Krankenhaus finde ich eine Parklücke auf dem Parkplatz hinter der Notaufnahme. Bevor ich aussteige, werfe ich im Rückspiegel einen Blick auf mein Gesicht. Ich lecke meine rechte Handfläche an und streiche mir über den Kopf. Mein Haar ist vom Schlaf zerzaust und steht in alle Richtungen ab. Ich sehe aus wie verrückt. Ich fühle mich verrückt. Ich denke, ich bin verrückt.
    Ich renne zur Tür.

    »Ich muss Donna Middleton sprechen.«
    »Und Sie sind?« Der Sicherheitsmann an der Anmeldetheke der Notaufnahme sieht mich misstrauisch an, und ich kann es ihm nicht verübeln, aber ich kann auch keine Rücksicht darauf nehmen.
    »Edward Stanton. Sie müssen sie holen.«
    »Weiß sie, dass Sie kommen?«
    »Nein. Holen Sie sie.«
    »Sir, Sie müssen sich beruhigen.«
    »Bitte, holen Sie sie.«
    »Sir.«
    »Bitte.«
    »Sir, warum sind Sie hier?«
    »Bitte. Sagen Sie ihr einfach, hier ist Edward Stanton. Bitte.«
    Er mustert mich langsam von oben bis unten. Ich versuche, ein wenig gerader zu stehen – als ob ich dadurch weniger lächerlich aussehen würde!

    Nach zwei Minuten, die eine Ewigkeit zu dauern scheinen – es ist komisch, wie Zeit sowohl Tatsache als auch Illusion sein kann –, kommt Donna Middleton durch die Doppeltüren, die den Vorraum von der Notaufnahme trennen.
    »Edward, was ist los?«
    »Ich muss mit Ihnen reden.«
    »Okay. Edward, ich bin bei der Arbeit.«
    »Ich weiß. Ich muss mit Ihnen reden.«
    »Okay.«
    »Sie müssen Kyle anrufen.«
    »Warum?«
    »Sie müssen sich vergewissern, dass es ihm gut geht.«
    Ihr Gesicht, das bis dahin nur verwundert ausgesehen hat, verändertsich augenblicklich. Es wird rot, und ihr Blick scheint mich zu durchbohren. Ihre Stimme überschlägt sich fast.
    »Was ist passiert? Ist meinem Sohn etwas passiert? Warum sind Sie hier?«
    »Bitte, rufen Sie ihn einfach an.«
    »Was wissen Sie von meinem Sohn?« Sie schreit mich an.
    Der Sicherheitsmann, der uns von der Anmeldung aus träge beobachtet hat, kommt näher. Donna Middleton hat ihre Hände zu Fäusten geballt.
    »Ich … ich …«
    »Was ist mit meinem Sohn?« Sie zittert.
    Ich rede sehr schnell. »Ich weiß es nicht. Ich hatte einen Traum. Die letzten zwei Nächte habe ich geträumt. Ich habe geträumt, dass etwas passiert. Ich konnte ihn nicht retten. Ich habe es versucht, wirklich versucht. Sie müssen ihn anrufen. Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Bitte. Rufen Sie ihn an.«
    Donna Middleton wendet sich ab und rennt durch die Doppeltüren zurück. Der Sicherheitsmann, ein sehr starker junger Mann, packt einen meiner Arme und dreht ihn mir auf den Rücken.

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