61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
wartete niemand auf ein Gelegenheitsziel. Unmöglich. Nach einer Minute würde man zu stark zittern, um überhaupt zielen zu können. Nach einer Stunde läge man im Koma. Nach zwei Stunden wäre man tot.
Damit stand fest, dass es kein langes Anschleichen zu Fuß durch den Neuschnee geben würde. Die Gefahr drohte von der Straße her. Der Kerl würde vorfahren, aus dem Wagen springen und versuchen, ins Haus zu stürmen. Deshalb goss Reacher zwei Becher Kaffee ein, als der Perkolator zu gluckern aufhörte, und brachte sie in den Salon, in dem er Janet Salter erklärte, sie würden sich in der kommenden Stunde alle zehn Minuten am Fenster ablösen.
Die folgende Stunde verstrich langsam. Niemand näherte sich dem Haus. Die Welt draußen war erstarrt. Tiefgekühlt. Der Wind wehte gleichmäßig aus Westen. Er trieb den Pulverschnee zu kleinen Verwehungen zusammen und legte Eisspalten frei, die im Mondschein bläulich schimmerten. Ein spektrales Naturschauspiel. Janet Salter trat an den Thermostaten neben der Tür und stellte ihn etwas höher. Reacher fand das nicht gut. Wärme machte einen schläfrig. Aber sie sollte natürlich nicht frieren. Er kannte Geschichten von alten Leuten, die im eigenen Haus an Unterkühlung gestorben waren.
Sie fragte: »Waren Sie jemals im Winter hier?«
Er antwortete: »Ich war überhaupt noch nie hier.«
»Vielleicht in North Dakota?«
»Ich war schon im Dakota Building in New York City.«
»Das nach unserem Staat benannt ist«, sagte sie. »Als es errichtet wurde, reichte die City praktisch nur bis zur 34th Street. Da wär’s verrückt erschienen, teure Apartments in der 72nd Street zu bauen – und noch dazu auf der West Side. Die Leute sagten, ebenso gut könnte das Gebäude im Dakota Territory stehen. Dieser Name ist dann hängengeblieben. Der Erbauer war übrigens Mitbesitzer der Singer Sewing Machine Company, womit wir einen Kreis beschrieben hätten und wieder bei dem Kännchen mit Nähmaschinenöl angelangt wären, nicht?«
Sie plapperte nur um des Redens willen. Reacher ließ sie reden. Er blendete das meiste aus und behielt weiter die Straße im Auge. Sie hielt ihm einen langen Vortrag über die Geschichte dieses Staats. Sprach von Entdeckern und Händlern, Lewis und Clark, den Sioux, Fort Pierre, von Farmern und Pionieren, dem Goldrausch, Crazy Horse, Sitting Bull, Custer, den Black Hills, Wounded Knee, der Dust Bowl und einem Kerl namens Brokaw, den sie anscheinend aus dem Fernsehen kannte.
22.55.
Noch neunundzwanzig Stunden.
Reacher beendete den achten Kontrollgang durchs Haus. ohne etwas Verdächtiges entdeckt zu haben. Vor allen Fenstern er streckte sich nichts als eine mondbeschienene Schnee- und Eiswüste. Zu hören war nichts außer Pumpgeräuschen in der Heizung und dem leisen Knacken des Eises. Es hatte die Natur jetzt fest im Griff. Er dachte an die Farmer und Pioniere, von denen Janet Salter gesprochen hatte. Warum, zum Teufel, waren sie überhaupt hier sesshaft geworden?
Er war auf dem Weg die Treppe hinunter, als er ihre Stimme hörte.
Sie sagte: »Da kommt jemand.«
Sie sprach laut und deutlich. Aber es gab keine zusätzlichen Informationen. Keine Anzahl, keine Position, keine Bewegungsrichtung, keine Personenbeschreibung. Reacher hastete in den Salon und schob sich an ihr vorbei ans Fenster. Sah einen Kerl, der sich dem Haus von links kommend in der Straßenmitte näherte. Er war klein, aber in eine überdimensional große Daunenjacke mit Kapuze gehüllt. Außer einer Sturmhaube trug er Schal, Handschuhe und Stiefel. Seine Hände waren leer. Er hielt sie nach beiden Seiten ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten.
Der Kerl stapfte langsam, zögernd weiter. Dann machte er genau vor Janet Salters Einfahrt halt. Stand einfach nur da.
Reacher fragte: »Wissen Sie, wer das ist?«
Sie sagte: »Augenblick.«
Der Kerl drehte sich um, beschrieb steif und unbeholfen einen Halbkreis und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein Hund kam zu ihm getrottet. Ein riesiger weißer Köter mit dichtem Fell. Der Kerl drehte sich erneut um, dann gingen Mann und Hund weiter.
Janet Salter erklärte: »Mrs. Lowell, eine Nachbarin. Aber in diesem Aufzug war sie schwer zu erkennen.«
Reacher atmete langsam aus und fragte: »Ist sie die Frau des Cops?«
»Exfrau. Officer Lowell ist vor einem Jahr ausgezogen. Wegen irgendwelcher Differenzen.«
»Welcher Art?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich habe Lowell heute gesehen. Peterson hat ihn seltsam genannt.
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