61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Geräusche völlig vertraut. Das Knarren des Parketts, das leise Quietschen einer Treppenstufe, die manchmal knackenden Rohre der Zentralheizung, ein Schiebefenster, das in dem auffrischenden Wind leicht klapperte. Der Geruch der Luft veränderte sich. Winzige Luftwirbel setzten alte Gerüche aus Teppichen, Vorhängen und Polstern frei. Sie waren nicht unangenehm, nur alt. Gefärbte Wolle, staubiger Samt, Mottenkugeln, Möbelpolitur mit Bienenwachs, Zigarrenrauch, Pfeifentabak. Uralte Düfte, die ein Geruchsporträt davon ergaben, wie wohlhabende Familien im Mittleren Westen gelebt hatten. Trotz des mineralischen Ölgeruchs des Revolvers, den Reacher jetzt ständig trug, nahm er sie deutlich wahr.
Er kam in den Salon zurück. Janet Salters Waffe steckte noch immer in ihrer Jackentasche. Ihre Hand lag weiter auf dem Griff. Er fragte sie: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie antwortete sehr förmlich: »Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass ich sehr privilegiert bin.«
»In welcher Beziehung?«
»Mir bietet sich die Chance, nach meinen Prinzipien zu leben. Ich glaube, dass gewöhnliche Bürger sich gegen das Böse stellen müssen. Aber ich glaube auch an rechtsstaatliche Verfahren. Ich glaube, dass jeder Angeklagte das Recht auf einen fairen Prozess hat, in dem die Belastungszeugen gegen ihn auftreten müssen. Aber es ist leicht, davon nur zu reden, oder? Nicht jeder bekommt Gelegenheit, danach zu handeln. Aber ich habe sie jetzt.«
»Sie halten sich großartig«, sagte Reacher.
Er schob sich an ihr vorbei ans Fenster.
Sah das wilde Hüpfen und Schlingern von Scheinwerferlicht auf der Straße.
Dort kam ein Auto herangerast.
21
Das war Peterson, der den größten Teil der hiesigen Polizei mitzubringen schien. Sechs Streifenwagen, sieben, acht. Dann ein neunter Wagen. Alle bremsten scharf, schlitterten, rutschten und kamen kreuz und quer auf der Fahrbahn zum Stehen. Ein Dutzend Cops sprang heraus, dann dreizehn, vierzehn, fünfzehn. Sie zogen ihre Pistolen und formierten sich zu einer Annäherung, die teils von verzweifelter Eile, teils von äußerster Vorsicht diktiert wurde. Weil sie keine Ahnung hatten, was sie erwartete.
Gelassene Ruhe oder ein Doppelmord.
Reacher ging in die Eingangshalle hinaus und stellte sich auf die Scharnierseite der Haustür. Er riss sie auf, blieb aber wohlweislich außer Sicht. Er wollte nicht aus Versehen erschossen werden. Fünfzehn nervöse Cops machten die Situation unberechenbar.
Er rief: »Peterson? Hier ist Reacher. Bei uns ist alles in Ordnung.«
Keine Antwort.
Er versuchte es erneut. »Peterson?«
Eisige Luft strömte herein. Sie brachte Petersons Stimme mit. »Reacher?«
Reacher antwortete laut: »Alles in Ordnung! Steckt die Pistolen weg, und kommt rein!«
Sie kamen hereingestürmt, fünfzehn Mann hoch, Peterson voraus, dann die vier Frauen, anschließend die drei Kerle, die in den Streifenwagen Wache gehalten hatten, zum Schluss sieben weitere Uniformierte, die Reacher nicht kannte. Jeder brachte einen kleinen Schwall eisiger Luft mit. Alle hatten von der Kälte gerötete Gesichter. Die Wärme im Haus setzte ihnen sofort zu, und sie fingen alle an, ihre Parkas aufzureißen, die Handschuhe auszuziehen und ihre Mützen abzunehmen.
Die vier Frauen umgaben Janet Salter wie eine Leibwache und verschwanden mit ihr in die Küche. Peterson beorderte die drei Streifenwagen vom Nachtdienst auf ihre Positionen und schickte die restlichen sieben Männer in die Polizeistation zurück. Reacher beobachtete vom Salon aus, wie erneut Normalität einkehrte. Binnen fünf Minuten war wieder alles so, wie es fünf Stunden zuvor gewesen war.
Peterson fragte: »Also, was ist hier los gewesen?«
»Überhaupt nichts«, antwortete Reacher. »Was war dort los?«
»Ein Aufruhr. Wir haben allerdings nicht viel davon mitbekommen. Sie haben ihn sehr rasch niedergeschlagen.«
»Weil er ein Schwindel war. Ein Ablenkungsmanöver.«
Peterson nickte. »Aber ihr Mann ist nicht aufgetaucht.«
»Und die große Frage lautet: Warum, zum Teufel, nicht?«
»Weil er Sie gesehen hat.«
»Aber ich ihn nicht. Was eine weitere große Frage aufwirft: Wenn er gut genug ist, um mich sehen zu können, ohne dass ich ihn sehe – warum hat er seinen Auftrag dann nicht ausgeführt?«
»Keine Ahnung.«
»Ich habe eine Frau mit einem großen weißen Hund gesehen.«
»Wann?«
»Kurz nach elf.«
»Mrs. Lowell. Sie ist eine Nachbarin. Sie geht mit ihrem Hund jede Nacht Gassi.«
»Das hätten Sie mir sagen
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