61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
verständlicherweise nervös, und das Reden schien sie zu beruhigen. Als er von seinem Rundgang durchs Haus zurückkehrte, fragte sie ihn: »Wie oft haben Sie so was schon gemacht?«
Er sah weiter aus dem Fenster und sagte: »Ein paarmal.«
»Und Sie haben’s offenbar überlebt.«
Er nickte. »Bisher, ja.«
»Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?«
»Ich mag keine Niederlagen. Für alle Beteiligten wär’s am besten, wenn’s nicht dazu käme.«
»Psychologisch ist das eine schwere Last. Ich meine diesen unbedingten Drang, die Oberhand zu behalten.«
»Gibt es denn Leute, denen Niederlagen Spaß machen?«
»Sie dürfen die Sache nicht nur in Schwarz und Weiß sehen. Sie müssten keinen Spaß daran haben. Aber Sie könnten sich in Ihr Schicksal fügen. Sie wissen doch: Man gewinnt ein paar, man verliert ein paar.«
»So funktioniert die Sache nicht. Nicht in meinem Beruf. Man gewinnt ein paar, dann verliert man einmal. Und damit ist das Spiel aus.«
»Sie sind noch immer in der Army, stimmt’s?«
»Nein. Ich bin seit Jahren draußen.«
»In Gedanken, meine ich.«
»Eigentlich nicht.«
»Fehlt sie Ihnen nicht?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich habe gehört, wie Sie mit dieser Frau in Virginia telefoniert haben. Sie klangen plötzlich viel lebhafter.«
»Das lag an ihr. Nicht an der Army. Sie hat eine klasse Stimme.«
»Sie sind einsam.«
»Sie etwa nicht?«
Janet Salter gab keine Antwort. Die Standuhr tickte weiter. Niemand näherte sich dem Haus.
Nach anderthalb Stunden und vier Kontrollgängen hatte Reacher das Gefühl, das Haus ziemlich gut zu kennen. Es war für eine frühere Generation gebaut worden, die in mancher Beziehung zäher, in mancher empfindsamer gewesen war. Die Fenster hatten Griffe und die Türen Schlösser: lauter solide Teile aus Messing oder Stahl, aber nicht mit modernen Beschlägen zu vergleichen, die jedes Eisenwarengeschäft führte. Was bedeutete, dass es dreiundvierzig mögliche Zugänge gab, von denen fünfzehn realistisch benutzbar waren, von denen wiederum acht sich einem normal intelligenten Angreifer aufdrängen würden, wobei sich sechs davon leicht blockieren ließen. Die beiden letzten waren schwieriger, weil Janet Salter viel in Bewegung war. Schusslinien waren immer kompliziert. Er überlegte, ob er darauf bestehen sollte, sie in den Keller zu verfrachten, aber sie bemerkte, dass er nachdachte, und begann zu reden, als wollte sie ihn ablenken. Er ließ seinen Blick an der Verandatür des Salons stehend nach links und rechts schweifen, als sie fragte: »War Ihre Mutter oder Ihr Vater bei den Marines?«
Er sagte: »Wie bitte?«
»Sie haben erzählt, dass Sie auf Stützpunkten des Marine Corps aufgewachsen sind. Ich frage mich, welcher Elternteil das erforderlich gemacht hat. Allerdings könnten es natürlich beide gewesen sein. War das zulässig? Dass Ehepaare gemeinsam dienten?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Welcher war’s also?«
»Mein Vater.«
»Erzählen Sie mir von ihm.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Netter Kerl, aber immer beschäftigt.«
»Distanziert?«
»Dafür hat er vermutlich mich gehalten. Auf jedem Stützpunkt hat es hunderte Kinder gegeben. Wir waren den ganzen Tag zusammen. In unserer eigenen Welt.«
»Lebt er noch?«
»Er ist schon lange tot. Meine Mutter auch.«
»Bei mir war’s ähnlich«, sagte Janet Salter. »Ich habe mich selbst distanziert. Habe ständig gelesen.«
Reacher gab keine Antwort, und sie verstummte wieder. Er beobachtete die Straße. Draußen ereignete sich nichts. Er ging in die Bibliothek und warf einen Blick in den Garten. Auch dort nichts. Die letzten Wolken zogen ab, und der Mond schien noch heller. Dort draußen lag eine bläuliche, kalte, leere Welt.
Nur war sie nicht leer.
Aber trotzdem kam niemand.
Verstecken spielen. Vielleicht das älteste Spiel der Welt. Wegen der uralten Ängste, die tief im Unterbewusstsein jedes Menschen schlummern. Jäger und Beute. Der unwiderstehliche wohlige Schauder, wenn man im Dunklen sitzend Schritte vorbeigehen hört. Das ungeheure Triumphgefühl, wenn man umkehrt, die Tür aufreißt und das Opfer entdeckt. Das augenblickliche Umschlagen urzeitlicher Ängste in befreites Lachen.
Dies war etwas anderes.
Hier würde es kein Lachen geben, sondern eine sekundenlange wilde Schießerei, den Gestank von Pulverdampf und Blut, dann jähe Stille und eine Pause, während man an sich herabblickte, um festzustellen, ob man verletzt war. Danach eine weitere
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