61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
ließ, die Speisekarte zu studieren. Peterson bestellte einen Hamburger und Mineralwasser, Reacher ein Käsesandwich vom Grill und Kaffee. Peterson drehte sich kurz zum Fenster um, das Reacher vor sich hatte, und lächelte zufrieden.
»Ich weiß«, sagte Reacher. »Die Scheibe ist ganz beschlagen. Aber ein Bus ist ein ziemlich großer Kasten. Ich werde ihn trotzdem vorfahren sehen.«
»Sie reisen nicht ab.«
»Mein Entschluss steht noch nicht fest.«
»Kim wollte nicht mitkommen. Sie geht auch nicht gern unter Leute.«
»Leute oder diese Art Leute?«
»Beides.«
Sie saßen zu zweit an einem Vierertisch. Die Schlange reichte weiterhin bis zur Tür hinaus, aber niemand wollte bei ihnen sitzen. Leute kamen herein, schauten herüber, machten vielleicht einen halben Schritt in ihre Richtung, blieben dann stehen und sahen weg. Die Welt war in zwei Hälften geteilt: in Leute, die Cops mochten, und Leute, die sie nicht mochten. Beim Militär war es genauso gewesen. Reacher hatte unzählige Male neben leeren Stühlen gegessen.
Peterson fragte: »Was täten Sie an meiner Stelle?«
»In welcher Beziehung?«
»In Bezug auf das Department.«
»Es ist nicht Ihres.«
»Ich bin als Nächster dran.«
»Ich würde straffe Aus- und Fortbildung betreiben und dann die Vereinbarung mit dem Gefängnis neu verhandeln. Sein Krisenplan ist völlig unzumutbar.«
»Er hat letzte Nacht gut funktioniert, wenn man von der Sache mit Mrs. Salter absieht.«
»Das ist der springende Punkt. Sie sagen: Es hat funktioniert, aber leider nicht geklappt. Sie haben keinen Notfallplan.«
»Ich bin kein großer Politiker.«
»Ist denn wenigstens nach gewisser Zeit eine Überprüfung vorgesehen?«
»Ja, das schon. Aber sie werden sagen, dass unsere Unterstützung selten gebraucht wird. Und wenn wir diesen Monat mit Mrs. Salter durchstehen, können wir auf nichts Negatives mehr hinweisen.«
Damit war das Gespräch beendet. Peterson schwieg, und Reacher hatte nichts mehr zu sagen. Weil Kim nicht mitgekommen war, hatte ihr Treffen seinen Sinn verloren. Aber das Essen war in Ordnung und der Kaffee frisch. Das musste er sein, wenn die Gäste so häufig wechselten. Hinter der Theke standen drei Kaffeemaschinen, die im Dauerbetrieb arbeiteten. Das Sandwich war appetitlich gegrillt, und Reacher lechzte nach Kalorien. Die ständige Kälte wirkte wie eine Schlankheitsdiät. Er verstand jetzt, warum die Einheimischen im Prinzip alle gleich aussahen: blond sowie rank und schlank. Blond wegen eines Erbfaktors. Rank und schlank, weil sie sich fünf, sechs Monate im Jahr den Arsch abfroren.
Als zuerst Reacher und dann auch Peterson mit dem Essen fertig waren, spürten sie sofort die begehrlichen Blicke der Wartenden auf sich. Deshalb zahlte Reacher und gab ein großzügiges Trinkgeld, das ihm nur ein müdes Lächeln der Bedienung einbrachte. Dann trat er mit Peterson auf den Gehsteig hinaus – gerade rechtzeitig, um einen großen gelben Bus vor der Polizeistation vorfahren zu sehen.
1.55 Uhr nachmittags.
Noch vierzehn Stunden.
Der Bus entsprach in Größe, Form und Ausführung genau dem Fahrzeug, das vor zwei Tagen den Unfall gehabt hatte. Mit der gleichen Ausstattung. Im Heck, wo die Toilette lag, waren die Fenster undurchsichtig. Die Fahrgasttür befand sich in der Mitte. Weil der Bus von Norden gekommen war, öffnete sie sich auf der der Polizeistation abgekehrten Seite. Reacher stand mit dem Wind im Rücken neben Peterson auf dem Platz und beobachtete, wie eine Reihe vermummter Gestalten herauskam und um den Bus herumging. An der Bustür gab es allerlei Abschiede. Die Einheimischen schüttelten Hände, wurden umarmt, tauschten Adressen und Telefonnummern aus. Er erkannte die Frau mit dem Schlüsselbeinbruch. Sie trug einen Mantel mit einem leeren Ärmel. Er sah die Frau mit dem gebrochenen Handgelenk. Sie hatte den Arm in einer Schlinge, und jemand anders trug ihren Koffer. Die Pflasterverbände waren weitgehend verschwunden. Der neue Fahrer kauerte vor dem Gepäckabteil und verstaute die neben ihm abgestellten Gepäckstücke. Die alten Leute gingen nacheinander um ihn herum und stiegen langsam die wenigen Stufen in den Bus. Reacher konnte durch die Fenster beobachten, wie Weißhaarige im Mittelgang nach vorn liefen, stehen blieben, ihren Platz wählten, es sich bequem machten.
Als Letzter stieg Jay Knox – einst der Fahrer, jetzt nur noch Mitreisender – in den Bus ein. Er ging nach hinten und ließ sich drei Reihen hinter den letzten Senioren
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