61 Stunden: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
auf einen Fensterplatz fallen. Auf Reachers Platz. Fast über der Hinterachse, wo die Stöße von der unebenen Fahrbahn sich am deutlichsten bemerkbar machten. Wenn man schon reiste, wollte man’s wenigstens spüren.
Der neue Fahrer schloss die Klappen des Gepäckabteils und kletterte die vorderen Stufen hinauf. Sekunden später schloss die Tür sich hinter ihm. Der Motor sprang an. Reacher hörte das Nageln des großen Diesels. Hörte das Zischen der Druckluftbremse und das Klicken, mit dem ein Gang eingelegt wurde. Der Motor röhrte, und der Bus fuhr an, verließ das Gelände der Polizeistation, rollte auf die Straße hinaus. Der eisige Wind konnte ihm nichts anhaben, als er nach Süden in Richtung Interstate davonbrauste. Reacher sah ihm nach, bis er außer Sicht kam.
Peterson klopfte ihm auf den Rücken.
Reacher sagte: »Ein brauchbares Transportmittel hat die Stadt ohne mich verlassen. Ich habe gerade mit einer lebenslangen Gewohnheit gebrochen.«
Plato rief seinen Mann erneut an. Riskant, aber er war Analytiker genug, um zu wissen, dass man manchmal alle Vorsicht aufgeben musste. Um zu wissen, dass zeitliche Abläufe alles waren … und sich nicht aufhalten ließen. Die Uhr tickte für jeden weiter. Selbst wenn man Plato hieß.
Sein Mann meldete sich.
Plato fragte: »Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Noch nicht. Tut mir leid.«
Plato machte eine Pause. »Vielleicht wär’s einfacher, den Auftrag zu erledigen, als ständig neue Verzögerungsgründe zu erfinden.«
»So ist’s nicht.«
»Man könnte fast glauben, Sie gäben sich alle Mühe, das falsche Leben zu retten.«
»Das tue ich nicht.«
»Konzentrieren Sie sich auf das Leben, das Sie wirklich retten wollen.«
»Das werde ich. Das tue ich.«
»Sie wissen, dass Sie einen Termin haben. Enttäuschen Sie mich bitte nicht.«
Reacher ging zur Polizeistation hinüber. Peterson fuhr mit seinem Wagen. Sie trafen sich in dem stillen Empfangsbereich und blieben einen Augenblick unschlüssig stehen. Sie hatten nichts zu tun, das wussten sie beide. Dann kam Holland aus seinem Dienstzimmer und sagte: »Wir sollten zum Lager rausfahren. Um uns umzusehen, nachdem es nun leer ist. Noch bei Tageslicht.«
26
Sie fuhren mit Hollands Wagen. Für drei Leute war er besser geeignet als Petersons Streifenwagen, weil er kein Sicherheitsgitter zwischen den Vorder- und Rücksitzen besaß. Reacher machte es sich hinten bequem, nahm fast den ganzen Sitz ein und behielt die Strecke im Blick, die er morgens gefahren war. Die Straßenverhältnisse waren weiter schlecht. Der Wind hatte nicht abgenommen. Die von Schrunden und langen Riefen durchzogene Schneedecke war so hart gefroren, dass sie fest mit dem Erdboden verbunden zu sein schien. Unter der blassen Nachmittagssonne leuchtete sie blendend weiß.
Sie bogen auf die parallel zur Interstate verlaufende alte Straße und dann erneut auf die zum Lager führende schmale Straße ab. Die ersten acht Meilen waren so schlimm wie zuvor. Eisplatten und -rinnen, wechselnde Fahrbahnschrägen und viele Kurven, deren Zweck nicht erkennbar war. Bis der Horizont sich dann plötzlich änderte. Hellgrauer Beton, erstaunlich breit, scheinbar endlos lang, zwischen aerodynamischen Schneewällen, über die der durch Eiskristalle sichtbare Wind hinwegpfiff.
Holland wurde langsamer, holperte auf die leicht erhöhte Fläche, hielt und ließ den Fuß auf der Bremse – wie ein Pilot vor dem Start. Er sagte: »Man sieht, was man sehen will, stimmt’s? Ich bin ein Dutzend Mal hier draußen gewesen und habe dieses Teilstück immer für eine Straße gehalten. Vielleicht ein bisschen üppig dimensioniert, aber das habe ich wohl aufs Militär geschoben.«
»Die Bahn war sonst schmaler«, sagte Peterson. »Deshalb war sie schwer zu erkennen. Der Wind hat sie von den Rändern aus mit Erde zugeweht. Nur der mittlere Teil ist benutzt worden. Diese Leute haben sie erstmals seit fünfzig Jahren geräumt. Nicht nur von Schnee, sondern auch von Erdreich.«
»Jedenfalls ein Riesending«, meinte Holland. »Das sieht man.«
»Das steht verdammt fest«, sagte Reacher. »Die Bahn ist bestimmt einen Meter dick. Vom Rauminhalt her dürfte sie das größte Bauwerk South Dakotas sein.«
Sie starrten das Betonband noch eine Minute lang an, bevor Holland den Fuß von der Bremse nahm, die Schneeketten griffen, und der Crown Vic weiterfuhr. Nach zwei Meilen tauchten die grauen Umrisse der Hütten und das Schieferdach des hinter ihnen stehenden Steinhauses mit
Weitere Kostenlose Bücher