616 - Die Hoelle ist ueberall
Alpträume, die nicht mehr aufhörten, seit sie im Krankenhaus gleich nach dem Brand erstmals aufgetreten wa-ren. Er sprach mit niemandem darüber, doch die Nonnen hörten ihn im Traum stöhnen, und mehrfach hatte irgendeine Schwester ihn mitten in der Nacht vor Angst aufschreiend vorgefunden, die Augen weit aufgerissen, Unverständliches murmelnd. Es wurde immer schlimmer. Der Arzt des Altenheims wusste trotz aller Bemühungen und bester Absichten nicht mehr weiter. Daher beschränkte er sich darauf, Beruhigungsmittel zu verschreiben, die lediglich dazu beitrugen, dass Daniel in diesem bedauernswerten Zustand verharrte, gegen seine Alpträume aber nichts ausrichten konnten.
Schlimmer als die Träume war jedoch die Trauer über den Verlust seiner geliebten Pflanze, eines verdorrten Stengels, den er eines Tages mit ins Kloster gebracht hatte. Die Nonnen hatten nie erfahren, wo er die Pflanze gefunden hatte, doch von Anfang an hatte er eine große Zuneigung zu ihr bewiesen. Unbeirrt nannte er sie seine Rose, obwohl es sich ebenso gut um irgendeine andere Pflanze der Schöpfung handeln konnte.
»Das kann so nicht weitergehen«, sagte sich die Oberin, als sie nun die abwesende Miene des alten Gärtners betrachtete. Nach ihrem Besuch würde sie sogleich Dr. Barrett anrufen. Das stand fest. Der arme Daniel … Doch an diesem Tag hatte die Nonne eine Überraschung für ihn.
Ein sanftes Klopfen an der Tür riss die Geistliche aus ihren Gedanken.
»Herein.«
»Ähm … guten Tag.«
Die Nonne musterte den Mann ausgiebig. »Sind Sie Mr Nolan?«
»So ist es. Joseph Nolan.«
»Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen. Sie haben heute Morgen mit mir telefoniert. Ich habe gerade eben an Sie gedacht, ist das nicht merkwürdig? Aber bleiben Sie doch nicht da stehen … Kommen Sie«, sagte sie, ehe der Feuerwehrmann antworten konnte. »Haben Sie sie bei sich?«
»Ja.«
Es war nicht leicht gewesen, Daniel zu finden. Nolan hatte eine ganze Woche dafür benötigt, dazu zwei Einladungen zum Abendessen mit anschließendem Kinobesuch und eine Füh-rung für zwanzig Kinder durch seine Feuerwache. Entgegen seiner Absicht hatte er Daniel nicht wieder auf der Intensivstation besucht. Als Nolan endlich den Mut für einen erneuten Besuch im Krankenhaus aufgebracht hatte, war Daniel bereits entlassen worden, und niemand hatte ihm sagen wollen, wo er nun war. Die beiden Einladungen zum Abendessen und ins Kino hatten einer jungen Frau aus der Krankenhausverwaltung gegolten, die ihm schließlich die Anschrift des Altenheims gegeben hatte – ein schmutziger Trick, das wusste er, selbst für einen guten Zweck; und die Führung war ein zusätzliches Bonbon für den Neffen des Mädchens sowie neunzehn weitere, als Fünftklässler getarnte kleine Monster gewesen.
»Daniel, sieh mal, was Mr Joseph Nolan dir mitgebracht hat. Deine Rose!«
»Meine … Rose?«, wiederholte Daniel und sah Joseph an. »MEINE … ROSE!«
»Ich habe sie in den Trümmern deines Hauses gefunden«, sagte der Feuerwehrmann ein wenig verlegen. »Du hattest recht, Daniel. Sie war da.«
Daniels Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen. Unerwartet behende sprang er aus dem Bett und umarmte zugleich Joseph und den Blumentopf, den dieser ihm reichte.
»Was sagt man, Daniel?«
»Danke, Jo … seph.«
Als der Feuerwehrmann Daniel seinen Namen sagen hörte, auch wenn es noch so zaghaft war, musste er lächeln.
»Gern geschehen. Du darfst mich übrigens wieder loslassen, bevor du mir alle Knochen brichst … Außerdem muss ich gehen. Meine Schicht fängt in einer halben Stunde an. Aber ich komme ein andermal wieder, Daniel, okay?«
Daniel antwortete nicht. Er hatte den Blumentopf auf die Fensterbank gestellt und betrachtete ihn verträumt.
Joseph und die Nonne ließen ihn allein. Auf dem Korridor sagte sie: »Kommen Sie wieder, wann immer Sie wollen. Sie sind ein guter Mensch, Joseph.«
Das fand er merkwürdig. Er hatte mit einem Mädchen ge-flirtet, das er nicht wieder anzurufen beabsichtigte, nur um ihr eine vertrauliche Information zu entlocken … Ein guter Mensch?
»Der Schein trügt, Schwester.«
Dr. Audrey Barrett wäre eine attraktive Frau gewesen, wenn sie nicht alles getan hätte, um diesen Eindruck zu vermeiden. Ihre Kleidung war so nüchtern, dass sie beinahe männlich wirkte, und die Haare trug sie stets in einem schlichten Zopf. Ihre großen, ausdrucksvollen grünen Augen hätten die Män-ner verrückt machen können, doch nur Leid spiegelte sich in
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