616 - Die Hoelle ist ueberall
verlassen, zu unterdrücken, denn sonst hätte sie die Verbindung verloren. Doch es war nicht einfach. Dieser andere Daniel machte ihr Angst. Ihr Verstand sagte ihr, dass es absurd war, dass Daniel lediglich ein Mann war, dessen Psyche krank war, und dass jenes andere Wesen nur eine Schöpfung des alten Mannes war, um eine Realität zu bewältigen, die ihm Angst machte oder die er verabscheute. Doch das war nicht das, was ihr Bauch sagte. Und Audreys Intuition hatte sie noch nie im Stich gelassen. In jener schrecklichen Nacht in Harvard, in der der arme Wachmann vor Angst und Schmerzen schreiend in den Flammen gestorben war, hatte sie gewusst, dass Zach etwas zu verbergen hatte. Auch jetzt ahnte Audrey etwas. Verstandesmäßig konnte sie es nicht erklären, doch es löste einen Schwindel bei ihr aus wie ein bodenloser Abgrund.
»Du machst mir keine Angst«, sagte Audrey. Ihre Stimme war trotz aller Zweifel fest.
»Natürlich mache ich dir Angst. Aber du weißt, dass du keine Schwäche zeigen darfst. Bist ein kluges Mädchen, Aud-rey. Das gefällt mir so an dir.«
Bei den beiden letzten Sätzen ging in den Tiefen von Audreys Gedächtnis eine rote Lampe an, auch wenn sie sie nicht gleich einordnen konnte. Als sie nun wieder das Wort ergriff, klang sie weniger sicher, als sie gewünscht hätte.
»Daniel braucht dich nicht.«
Dies war an Daniel gerichtet, der sich hinter dieser anderen Persönlichkeit verbarg. Audrey wollte Daniel davon überzeugen, dass er keine Masken brauchte, dass er mit ihrer Hilfe jedes Problem bewältigen könnte. Damit kehrte sie zu ihrer Arbeit als Psychiaterin zurück. Den eigentlichen Grund ihres heutigen Besuchs hatte sie ganz vergessen.
»Daniel braucht mich nicht, das stimmt. Aber du schon.«
»Und wozu sollte ich dich brauchen?«
»Um die Wahrheit herauszufinden natürlich. Gibt es etwas Wichtigeres als die Wahrheit? Nein. Deshalb ist VERITAS der Leitspruch von Harvard.«
»Was weißt du schon von Harvard?«
Audrey war wütend. Sie verspürte große Lust, sich auf ih-ren Gesprächspartner zu stürzen und ihm Schaden zuzufügen. Genau so, »Schaden zufügen«. Es schien ihr nicht ausreichend, ihn einfach nur zu ohrfeigen oder Ähnliches. In der Dunkelheit, in der sie den naiven, unschuldigen Daniel nicht sehen konnte, war es einfach, sich das verachtenswerte Wesen vorzustellen, zu dem diese Stimme gehörte. Und es zu hassen.
»Was ich von Harvard weiß? … Alles, Audrey. Ich weiß alles. Gewissensbisse sind etwas Schreckliches, nicht wahr?« Er hielt kurz inne, und nur ein kaum vernehmbares, aber boshaftes Lachen war zu hören. »Weißt du, dass er zwei Töchter hatte?«
Audrey hielt den Atem an. Sie dachte, sie würde nie wie-der Luft holen können.
»Von wem … redest du?«
Sie sprach stockend, wie Daniel sonst immer. Es konnte nur eine Antwort auf ihre Frage geben, doch sie wollte sie hören. Es musste sein, damit kein Zweifel mehr daran bestand, dass hier etwas Ungewöhnliches geschah.
»Ich rede natürlich von dem Wachmann, den ihr in Harvard Hall angezündet habt. Er hieß Abraham, falls es dich interessiert. Man hat seine Töchter nicht zu seiner Leiche gelassen. Man wollte nicht, dass die beiden unschuldigen Mädchen ihn so schrecklich zugerichtet in Erinnerung behalten. Sehr aufmerksam, findest du nicht?«
Das Licht ging wieder an, und Audrey fuhr zusammen. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihre Brust schmerzte. Die Adern an ihrem Hals waren geschwollen und pochten.
»Spielen wir … nicht mehr?«, fragte Daniel. Der echte diesmal.
»Nein, Daniel. Ich glaube, für heute ist das Spiel vorbei.«
Audrey war in ihrem Büro. Sie hatte daran gedacht, einen Jack Daniels zu trinken – auch hier bewahrte sie eine Flasche auf –, doch sie tat es nicht. Jene Nacht neulich hatte ihr eine Lektion erteilt. Sie saß bereits seit über zwei Stunden in ihrem Sessel. Dachte nach. Nun stand sie auf und schaltete die Sprechanlage ein.
»Ja?«
»Schreib mit, Susan.«
»Zuerst möchte ich dich daran erinnern, dass du um drei einen Termin hast, mit Mrs Steiner.«
Ohne auf den bissigen Ton ihrer Sekretärin einzugehen, fuhr Audrey fort: »Such die Nummer des Fachbereichs Physik in Harvard heraus und setz dich mit Professor McGale, Michael McGale, in Verbindung. Versuch unbedingt, so bald wie möglich einen Termin mit ihm für mich zu vereinbaren. Wenn möglich noch für heute.«
»Aber Audrey …«
»Tu, was ich dir sage!«
»Gut. Professor Michael McGale am Fachbereich
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