616 - Die Hoelle ist ueberall
einer »Theorie« gesprochen hätte. Passender erschien ihr zu sagen, sie habe eine plausible Erklärung gefunden und wolle mit Michael überprüfen, ob sie etwas taugte.
»Ich glaube, mein Patient könnte ein Telepath sein. Zumindest in einer seiner Persönlichkeiten. Ich habe lange dar-über nachgedacht, etwas anderes fällt mir nicht ein. Das, was er weiß, wissen eigentlich nur drei Personen. Und eine davon ist seit Jahren tot. Der andere ist, glaube ich, irgendwo in Af-rika und hat sich wahrscheinlich als Söldner verdingt. Und ich würde mein Leben darauf verwetten, dass mein Patient kei-nen der beiden je kennengelernt hat.«
»Und ich vermute«, warf Michael ein, »dass du die dritte Person bist, die dieses Geheimnis kennt.«
Gewiss hatte Michael das Wort »Geheimnis« nur so dahin-gesagt, doch ihr war mulmig zumute, als sie das Wort hörte.
»Ja«, bestätigte Audrey. »Ich bin die dritte Person, die das Geheimnis kennt, wie du es nennst. Was hältst du von meiner Idee?«
Ein rot gefiederter Vogel setzte sich außen auf die Fensterbank. Seine schwarzen Äuglein musterten Michael neugierig, als fragte er sich, ob Michael essbar sei oder nicht. Offenbar kam er zu dem Schluss, dass der Physiker doch nicht der größte Wurm der Welt war, denn er richtete den Schnabel wieder zur Straße und flog zu einem Baum in der Nähe.
»Ich denke, man könnte bei deinem Patienten einen einfa-chen Test mit Zener-Karten durchführen, um herauszufinden, ob er telepathische Fähigkeiten hat. Aber falls du wissen willst, ob ich glaube, dass die Telepathie und andere außersinnliche Fähigkeiten kein Mythos sind, sondern physische Realität, dann lautet die Antwort: Ich bin überzeugt davon, dass es so ist. Und ich bin nicht der Einzige … Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Projekte es gibt und wie viel Geld in Forschungen zur Telepathie, zum Hellsehen oder zur Teleki-nese gesteckt wurde und immer noch gesteckt wird. Unsere liebe Regierung ist mit am stärksten an solchen Fragen interessiert.«
»Im Ernst?«
Sie fragte aus reiner Höflichkeit. Die Einzelheiten interessierten sie nicht besonders. Sie wollte knappe, direkte Antworten. Doch Michael nahm ihre Reaktion als echtes Interesse.
»Ich versichere dir, dass die Regierung hinter vielen dieser Projekte steckt. Anfang der siebziger Jahre riefen die CIA und das Verteidigungsministerium ein geheimes Programm ins Leben, dessen letzter Deckname STAR GATE war. Damit wollte man übersinnlich Begabte schulen und sie für Fernspi-onageaufgaben einsetzen. Das Projekt wurde von einem Physiker der Universität Stanford geleitet, Professor Puthoff. Angeblich wurde es mangels Resultaten Mitte der Neunziger eingestellt, aber Puthoff hat öffentlich bestätigt, das Programm habe funktioniert und er könne bezeugen, dass seine übersinnlich begabten Spione in der Lage seien, von den Vereinigten Staaten aus ultrageheime Stützpunkte im Inneren Russ-lands auszuspionieren. Und weißt du was, Audrey? Ich möch-te wetten, dass das Projekt weiterläuft, nur unter noch größe-rer Geheimhaltung. Davon bin ich überzeugt. Genau wie die Programme der Russen selbst oder die der Chinesen.
Und es ist keine reine Regierungsangelegenheit. Es gibt auch Universitäten und private Unternehmen, die die übersinnlichen Fähigkeiten erforschen. Die Sony Corporation, die deinen Fernseher oder diesen Monitor hier herstellt, hat jahrelang ein Programm namens ESPER finanziert. Es wurde erst eingestellt, nachdem der Sony-Pressesprecher einem Journalisten gegenüber eingeräumt hatte, sie hätten die Existenz übersinnlicher Fähigkeiten nachweisen können. Übrigens lautete eine ihrer Schlussfolgerungen, dass Kinder über stärkere übersinnliche Begabungen verfügen als Erwachsene. Und hast du nicht gesagt, dein Patient sei geistig behindert? Geistig Behinderte sind so etwas wie große Kinder. An der Universität Princeton läuft seit über einem Vierteljahrhundert das For-schungsprogramm PEAR. Damit haben sie nachgewiesen, dass der menschliche Geist über die Entfernung hinweg auf die Materie einwirken kann. Und es gibt noch viel verblüf-fendere Dinge, zum Beispiel ein laufendes Projekt mit dem Namen Global Conscience, mit dem man offenbar die Existenz eines globalen kollektiven Bewusstseins nachweisen will … Ich könnte dir den ganzen Nachmittag lang von ähnlichen Projekten erzählen.«
Daran zweifelte Audrey nicht. Sie hatte sich mit Michael treffen wollen, weil Physiker in ihren Augen die
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