616 - Die Hoelle ist ueberall
Physik in Harvard. Wenn möglich heute. Sonst noch etwas?«
Susan war gekränkt, das merkte Audrey.
»Nein.«
11
Boston
Audrey wartete vor der Bürotür von Professor Michael W. Mc-Gale im zweiten Stock des Jefferson Laboratory in Harvard. Susan hatte noch für denselben Nachmittag einen Ter-min vereinbart, und Audrey war eine halbe Stunde zu früh gekommen, weil sie das Treffen mit ihm kaum erwarten konnte.
Sie war zum ersten Mal seit ihrem Abschluss wieder auf dem Campus von Harvard. All die Jahre hatte sie die Universität gemieden. Und heute hatte sie das Gelände ganz bewusst von Norden her betreten, um nicht am Old Yard und an Harvard Hall vorbeizumüssen. Sie hätte den Wissenschaftler einfach anrufen können, doch in gewissen Angelegenheiten war ein persönliches Gespräch besser, und deshalb hatte sie sich für eine Unterhaltung unter vier Augen entschieden.
»Audrey, Audrey Barrett? Bist du das? Natürlich bist du es! Du hast dich kein bisschen verändert.«
»Michael?«
Er hatte sich sehr wohl verändert. Zum einen wog er wohl zwanzig Kilogramm mehr als bei ihrer letzten Begegnung. Zum anderen verdeckte nun ein üppiger Bart weite Teile seines Gesichts.
Audrey und er kannten sich vom Studium her. Michael hatte zu einer großen Gruppe von Studenten gehört, mit de-nen auch Audrey befreundet gewesen war, wenn auch nicht auf der gleichen Ebene wie mit Leo oder Zach. Nach den Ereignissen jener verhängnisvollen Nacht hatte Audrey den Kontakt zu beinahe allen abgebrochen. Zudem hatte Zach sie verlassen, und Leo hatte sich ihr zunehmend entfremdet, vielleicht als Form von Buße. Jahre später hatte Audrey nur deshalb von seinem Tod erfahren, weil Leos Mutter es ihrer Mutter erzählt hatte. Unter anderem aus diesem Grund war ihre Beziehung zu Michael McGale enger geworden. Er war damals ein brillanter junger Mann gewesen und hatte Physiker werden wollen. Dieses Berufsziel hatte er auch erreicht, und dazu eine Professorenstelle im Fachbereich Physik in Harvard.
»Ich bin ein bisschen dicker, als du mich in Erinnerung hast, stimmt’s?«
»Ein bisschen, ja.«
»Die Cheeseburger sind noch mein Untergang … Wartest du schon lange?«
»Eine Viertelstunde.«
Sie gingen in Michaels kleines Büro. Audrey war auf die typische Klause eines genialen Wissenschaftlers gefasst: bis obenhin vollgestopft, jede Oberfläche mit Papieren übersät, die Regale kurz davor, unter dem Gewicht der Bücher zu-sammenzubrechen. Doch sie erblickte genau das Gegenteil: ein peinlichst aufgeräumtes Büro mit einem Tisch, auf dem jedes Papier an seinem Platz lag. Die einzigen anderen Gegenstände darauf waren ein Flachbildschirm und das Foto ei-ner glücklichen Familie. Ihre Finger zitterten, als sie es in die Hand nahm, und sie konnte es nicht lange festhalten.
»Tolles Foto, was?«, sagte Michael, dem der Stimmungs-wechsel seiner alten Freundin nicht auffiel. »Das haben wir in einem der Vergnügungsparks auf Coney Island gemacht. Der kleine Michael wird einmal ein richtiger Herzensbrecher, wenn er groß ist, meinst du nicht? Der kommt ganz eindeutig nach seiner Mutter … Übrigens, wie geht’s denn deinem …?«
Audrey unterbrach ihn.
»Ich hab es ein bisschen eilig, Michael.«
Sie wusste, was er sie hatte fragen wollen, und sie konnte es nicht ertragen, darüber zu reden.
»Ja, natürlich. Entschuldige. Meine Frau Karen sagt, ich leide unter verbaler Inkontinenz, und sie hat völlig recht … Okay. Also schieß los …«
Die beiden hatten sich gesetzt. Durch das Fenster zu seiner Linken fiel ein angenehmes Licht. Die Tage können lichtdurchflutet sein, auch wenn die eigene Seele von Finsternis umgeben ist. Das erschien Audrey außerordentlich ungerecht.
»Ich behandele einen geistig behinderten Patienten, der beinahe bei einem Brand ums Leben gekommen wäre. Er weist verschiedene Symptome von posttraumatischem Stress auf: Albträume in Verbindung mit dem Brand, Schlafstörun-gen, so in der Art. Ich habe eine psychotherapeutische Behandlung eingeleitet und außerdem die Gabe von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln empfohlen, und …« Michael hatte leise gehustet und sich im Stuhl herumgedreht. Audrey schlich um den heißen Brei herum. »Du hast recht, Michael. Ich werde es ganz klar ausdrücken: Mein Patient weiß Dinge, die er nicht wissen kann.«
»Aha. Und wie erklärst du dir das? Ich nehme an, du hast eine Theorie. Sonst wärst du nicht hier, oder?«
Michael irrte nicht, auch wenn Audrey nicht direkt von
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