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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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weil es dem Zahn der Zeit zu widerstehen vermochte, sondern weil es schon immer tot gewesen war.
    Diesmal suchte Audrey Daniel nicht in seinem Zimmer auf. Sie nahm an, der alte Mann würde im Garten hinter dem Haus die Sonne genießen, und sie hatte recht. Er saß auf derselben Bank wie bei ihrer ersten Begegnung. Als der Alte sie sah, lächelte er einfältig wie immer.
    »Du siehst … schlecht aus, Audrey.«
    »Ja, ich weiß. Darf ich mich setzen?«
    »Natürlich.«
    Schweigend saßen sie nebeneinander. Die Gesichter der Sonne zugewandt, beobachteten sie die übrigen Heimbewoh-ner, die an der Hand von Nonnen an ihnen vorbei über den Rasen spazierten.
    »Habe ich neulich … etwas Schlimmes getan?«
    Überrascht wandte Audrey sich Daniel zu. Er beobachtete weiter die Spaziergänger.
    »Nein, natürlich nicht. Warum fragst du das?«
    »Er … war … zufrieden.«
    »Der, der immer mit dir spricht, war zufrieden?«
    »Ja. Ich weiß nicht … was ich zu dir gesagt habe …, aber er hat mir gesagt, … dass ich es … sehr gut gemacht habe, dass ich dich … erschreckt habe.«
    Audrey fröstelte. Das passierte ihr in Daniels Gegenwart nicht zum ersten Mal.
    »Ich dachte, du erinnerst dich nie an das, was diese Stimme dir sagt.«
    Daniel zuckte mit den Achseln und erwiderte: »Er wollte, dass ich … mich … daran erinnere.«
    Erneut fiel Audrey auf, dass Daniel Angst hatte. Bei einem normalen Patienten hätte sie genau gewusst, welches ihr nächster Schritt in der psychologischen Evaluierung und Behandlung wäre. Doch der alte Gärtner war kein normaler Patient. Es war nicht normal, was in der letzten Sitzung geschehen war. Audrey musste ständig an Daniels Bemerkung über die vier Lügen den-ken. Ob das nur ein unglaublicher Zufall gewesen war? Und falls nicht, wie könnte man es sonst erklären? Dies waren die Fragen, auf die sie eine Antwort zu finden beabsichtigte. Seit es ihr gelungen war aufzustehen, hatte sie in einem fort überlegt, mit welcher Strategie sie das am ehesten erreichen würde. Es erschien ihr offensichtlich, dass sie dafür Daniels andere – so rätselhafte – Persönlichkeit freilegen musste, die sie tatsächlich erschreckt hatte. Und zwar aufs heftigste.
    Hypnose wäre eine Möglichkeit, auch wenn diese Technik bereits ein wenig veraltet war. Außerdem könnte es sich angesichts von Daniels geistigen Möglichkeiten als schwierig erweisen, sie bei ihm anzuwenden. Doch es gab eine vergleichsweise neue, noch experimentelle Methode namens EMDR. Das war die Abkürzung für »Eye Movement Desen-sitization and Reprocessing«. Man ging davon aus, dass man den Patienten damit in den geeigneten psychischen Zustand versetzen konnte, damit er Zugang zu tiefliegenden Traumata erhielt und diese verarbeiten konnte. Zwar gab es Ähnlichkeiten zwischen dieser Technik und der Hypnose, doch ihre Ziele unterschieden sich: Die Hypnose sollte den Patienten in einen entspannten mentalen Zustand, eine Art Trance versetzen, während er beim EMDR-Verfahren in jedem Augenblick ganz wach und sich der Realität bewusst war. Dieser Unterschied mochte banal klingen, doch das war er nicht. Audrey kannte mehrere Fälle von Kindern mit schweren posttraumatischen Stresssymptomen, bei denen man EMDR mit guten Resultaten eingesetzt hatte, und Daniel war einem Kind so ähnlich, wie ein Erwachsener es nur sein konnte.
    »Hättest du Lust, ein Spiel zu spielen, Daniel?«
    Audrey wirkte nicht im Geringsten fröhlich, doch der alte Mann antwortete trotzdem voller Begeisterung: »Ja.«
    Schon lange hatte Audrey den Raum, den die Oberin zum Behandlungsraum für sie hatte umfunktionieren lassen, nicht mehr betreten. Sie fand ihn so deprimierend wie immer, mit seinen billigen Möbeln und den Wänden voller Wasserfle-cken. Doch Audrey hielt es für besser, die EMDR-Methode hier einzusetzen. Im Garten wäre Daniel zu vielen Ablenkun-gen ausgesetzt gewesen und zu vielen neugierigen Blicken.
    »Setz dich, Daniel.«
    Sie selbst setzte sich auf den einzigen anderen Stuhl im Zimmer. Die beiden wurden durch die kleine Schulbank getrennt, die zusammen mit den beiden Stühlen das gesamte Mobiliar des Raums darstellte. Zwischen Daniel und Audrey befand sich außerdem seine Rose, von der er sich seit dem Brand nie mehr trennte. Er hatte sie auf seinen Oberschen-keln abgestellt.
    »Es ist ein sehr lustiges Spiel und ganz einfach«, sagte Aud-rey und holte einen Kugelschreiber aus der Innentasche ihrer Jacke. »Du musst nur immer auf diesen

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