616 - Die Hoelle ist ueberall
gezwungen, der sich nie um Geld gekümmert und ihnen folglich auch nur wenige Dollar auf einem Bank-konto hinterlassen hatte. Audrey hatte nur dank eines hart erarbeiteten Stipendiums in Harvard studieren können. Ihr war in ihrem Leben nichts geschenkt worden.
Diese und andere Erinnerungen lenkten sie vorübergehend von dem ab, was ihre Gedanken beherrschte: Daniels Enthül-lung während des Exorzismus. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie aus dem Altenheim zu ihrem Auto geflüchtet und stundenlang ziellos durch die Stadt gefahren war. Erst als ihr das Benzin auszugehen drohte, hatte sie irgendwo in der Nä-he des Hafens angehalten. Dann hatte sie so heftig geweint, dass ihr danach die Kehle wehgetan hatte. Die Tränen hatten ihr keine Erleichterung gebracht. Nicht diese Tränen. Es wa-ren Tränen der Wut und des Hasses gewesen. Ihr Sohn Euge-ne hatte sich fünf Jahre zuvor auf Coney Island nicht verlau-fen. Er hatte nicht versehentlich einen Schlag auf den Kopf erhalten, so dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wer er war und wie er nach Hause zurückkäme. Er war weder ins Meer gestürzt, noch hatte seine Leiche irgendwo im Straßen-graben gelegen, nachdem ein Auto ihn überfahren hatte.
Nichts davon war geschehen.
Die Wahrheit, die das teuflische Wesen, das von Daniel Besitz ergriffen hatte, ihr enthüllt hatte, war eine andere. Je-mand hatte ihr auf Coney Island ihren Sohn geraubt. Und Audrey wusste jetzt auch, wer dafür verantwortlich war, dass ihr Leben sich in eine einzige bittere Qual verwandelt hatte. Er hieß Anthony Maxwell und war ebender Clown, der ne-ben Eugene auf seinem letzten Foto posierte. Allein der Gedanke, dass sie das Bild dieses lächelnden, weiß-rot ge-schminkten Gesichts betrachtet hatte, ohne auch nur den geringsten Verdacht zu schöpfen … Das Gesicht dieses ver-dammten Mistkerls, der in der Nähe von New London lebte, wo sie und ihre Mutter einst gelebt hatten. So machte Gott sich über die Menschen lustig. Mit Zufällen wie diesem. Gott war grausam. Wer das Gegenteil behauptete, log oder war naiv.
Audrey wollte Rache. Sie wurde innerlich zerfressen von ihrem Zorn und dem Verlangen, diesen Mann leiden zu se-hen. Maxwell war für sie kein Mensch mehr, schlicht deshalb, weil nur ein Tier fähig wäre zu tun, was er getan hatte. Auch Audrey selbst hatte sich in ein wildes Tier verwandelt, in ein Raubtier.
Der Sinn ihres Lebens bestand nunmehr einzig darin, Maxwell für sein Verbrechen bezahlen zu lassen und das letzte Puzzleteilchen zu finden, das Daniel ihr nicht offenbart hatte: ob ihr Sohn Eugene noch lebte oder nicht.
Es bereitete ihr Mühe auszusteigen. Ihr Körper war ganz steif. Die Kälte und die feuchte Luft drangen ihr trotz der warmen Kleidung bis in die Knochen. Von der Vorderseite ihres Wagens gingen zwei Lichtkegel aus und beleuchteten die dicke Schicht vermodernder Blätter, die alles bedeckte. Der Frühling war noch weit entfernt, und es schien ausge-schlossen, dass diese Fäulnis sich einmal in überschäumendes Leben verwandeln würde. Ebenso unmöglich erschien es Audrey, dass sie eines Tages wieder die sein könnte, die sie vor jenem Tag gewesen war.
Der Verlust Eugenes hatte ihre Seele vergiftet und sie zu einer traurigen, resignierten Frau gemacht, die vor allem Gott hasste. Doch in gewisser Weise hatte sie sich daran gewöhnt, mit ihrem Kummer zu leben. Sie war davon überzeugt gewesen, dass Eugene nicht tot war, hatte den Berichten der uner-müdlich nach ihm suchenden Detektive erwartungsvoll ent-gegengesehen. Daniels Enthüllungen hatten dieses extrem zerbrechliche Gleichgewicht verändert. Es war die reine Iro-nie, dass der Teufel ihr das gegeben hatte, was ihr Glaube an Gott ihr nicht hatte geben können: neue Hoffnung. Auch wenn sie nicht sicher war, ob das gut für sie war. Sollte sie herausfinden, dass diese zarte Hoffnung vergeblich war, würde die Enttäuschung darüber ihr nicht erlauben, weiterzuleben.
Sie überquerte die Straße, ohne zu wissen, wieso. Immerhin vergewisserte sie sich zuvor, dass sie gefahrlos hinübergehen konnte, so, als wäre diese verlassene Landstraße die hekti-sche Commonwealth Avenue. Alte Gewohnheiten sind manchmal das Einzige, was uns bleibt. Vergeblich versuchte Audrey, die Dunkelheit zu durchdringen. Sie war allein und verloren. Doch in ihren Gedanken war kein Platz für Selbst-mitleid. Sie war vollauf damit beschäftigt, etwas zu verdrän-gen, wovor ihr Verstand förmlich zurückzuckte. Schon die Vorstellung,
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