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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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darüber nur nachzudenken, war für Audrey fast so schmerzhaft wie der Gedanke, ihr Sohn könnte tot sein: Was mochte Eugene erlitten haben, falls er noch lebte? Welchen Demütigungen …?
    »AAAAAHHHHH!«
    Audrey schrie, so laut sie konnte, um den abscheulichen Gedanken zum Schweigen zu bringen. Ihr gequälter Schrei schreckte einen Nachtvogel auf. Sonst geschah nichts. Sie litt, und der Welt war es egal. Sie ging zum Auto zurück, aber diesmal sah sie vor dem Überqueren der Straße nicht nach links und rechts.

18
    Boston
    Der Wecker war auf sieben Uhr morgens eingestellt, doch er erhielt keine Gelegenheit zu klingeln, denn Pater Cloister stellte ihn einige Minuten zuvor aus. Er war bereits gegen halb sieben nach nicht mehr als drei Stunden Schlaf erwacht. Die übrige Zeit hatte er wachgelegen und wirren Gedanken nachgehangen, Erinnerungen an Erlebnisse, die sich in seinem Kopf vermischten. Er fühlte sich wie ein Kind angesichts eines zu komplizierten Problems. Die einzelnen Teile wollten sich nicht ineinanderfügen, und das machte ihm zu schaffen. Er war kein hochmütiger Mensch, sonst wäre sein Stolz jetzt schwer angeschlagen gewesen. Alle seine Kenntnisse, seine Sinne, seine Intelligenz reichten nicht aus, um zu verstehen, was da geschah.
    Er war noch nicht aufgestanden, da verspürte er bereits das Verlangen nach einer Zigarette. Doch er ging ins Bad, trank einen Schluck Wasser und steckte sich ein Nikotinkaugummi in den Mund. Dann duschte er kurz, kleidete sich an und ging hinunter. Er frühstückte nicht in der Cafeteria des Kollegs, sondern ging dafür lieber in irgendeine Bar, wo er allein inmitten von Unbekannten war. Später würde er einen Spaziergang unternehmen und sich Zeit lassen, seine Gedanken zu ordnen. Keine neuen Informationen, ehe er nicht das verar-beitet hatte, was er bereits wusste. Sobald ihm dies gelungen wäre, sobald er die für ihn im Augenblick nützlichen oder verständlichen Daten herausgefiltert hätte, würde er in sein Zimmer zurückkehren und die Mini-DVD anschauen. Erst dann.
    Nach dem Frühstück begab er sich auf einen langen einsamen Spaziergang. Er begann in der Devonshire Street und bog dann links in die Franklin Street ein, wo sich das Kolleg befand. Von dort aus lief er bis zum Bostoner Aquarium. Er beschloss, hineinzugehen, obwohl er sich eigentlich nicht besonders für Meerestiere interessierte, doch er nahm an, dass die friedlichen, stillen Unterwasserszenen ihm dabei helfen würden, in Ruhe nachzudenken. Die Wirklichkeit sah allerdings völlig anders aus: Das Aquarium war von lärmenden Kindern überschwemmt. Cloister suchte sich einen möglichst ruhigen Ort und versuchte, den Trubel zu ignorieren. Vor ihm schwammen die Robben in ihrem Becken. Durch eine Scheibe konnte er sie unterhalb der Wasseroberfläche beobachten. Sie wirkten ausgesprochen zufrieden.
    Lächelnd beobachtete der Jesuit die Tiere. Als er schließ-lich beschloss, zurückzugehen, war sein Geist ein wenig ruhiger. Wie ein Soldat vor der Schlacht, dessen Nachtwache endlich durch den Sonnenaufgang beendet wird, blickte er entschlossen zur Front. Vielleicht würde er in der Videoauf-nahme des Exorzismus das finden, was ihm zum Verständnis des Rätsels, in dem er in gewisser Weise der Protagonist war, noch fehlte. Nun hatte er es eilig. Er nahm ein Taxi zurück zum Kolleg und ging sogleich hinauf in sein Zimmer. Dort holte er die Digitalkamera aus ihrem Etui und schloss sie an den Fernseher an. Dann legte er die DVD ein und betätigte den Startknopf.
    Zunächst war das Bild, das Cloister zu sehen bekam, schief, und die Linse schien teilweise verdeckt zu sein – der Exorzist stellte die Kamera wohl gerade erst auf. Seine Stimme war unangenehm, süßlich. Als er die Kamera zu seiner Zufrieden-heit ausgerichtet hatte und sich von ihr entfernte, war zum ersten Mal sein Gesicht zu sehen, dazu ein großer Teil des Zimmers. Es war eines der schlichten Zimmer des Altenheims. Das Fenster war nicht im Bild, doch es fiel Tageslicht ins Zimmer und auf die Wand, an der Daniels Bett stand. Auf einer Seite stand ein Nachttisch, auf den der Priester ein Bild der Jungfrau und die Gefäße mit Weihwasser und Salz gestellt hatte. Auf dem Bett lag ein schlichtes Kruzifix.
    Was Cloister dann zu sehen bekam, war sehr beeindru-ckend und stellenweise sogar erschreckend: ein Kampf zwischen Gut und Böse, verkörpert von diesen drei so verschiedenen Menschen und auf diesem so absonderlichen Schlachtfeld. Daniel schien

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