616 - Die Hoelle ist ueberall
tatsächlich vom Teufel besessen zu sein. Seine Stimme wurde zu einem Stimmengewirr, das unmittelbar aus der Hölle zu dringen schien. Ab diesem Augenblick wirkte Pater Gómez ausgesprochen verstört. Man hätte mei-nen können, er wäre ebenso besessen wie der alte Mann, des-sen Gesicht sich zunehmend verzerrte. Aufgrund der be-schränkten Qualität der Kamera und der schlechten Lichtverhältnisse ließ die Bildqualität zu wünschen übrig. Dennoch konnte Cloister deutlich erkennen, dass da einiges tatsächlich nicht auf eine Geisteskrankheit zurückzuführen war. Als der Exorzist von einer unsichtbaren Kraft rückwärts gegen die Kommode gedrückt wurde, wirkte Daniel nicht wie ein einfacher Geisteskranker.
Noch deutlicher wurde das, als der arme Mann den Satz herausschrie, der Cloister hierher geführt hatte: »DIE HÖLLE IST ÜBERALL.«
Noch eine Stunde, nachdem er sich die Aufnahme ange-schaut hatte, sah er die Bilder des Exorzismus vor sich, hallte in seinen Ohren der mittlerweile so vertraute Satz wider. Ei-nen anderen Schrei hatte er sich weit über zehnmal angehört: Da brüllte der alte Gärtner einen unverständlichen Satz her-aus, jedenfalls für Cloister unverständlich, auch wenn der Klang der fremdartigen Worte ihm nicht völlig fremd war. Natürlich könnte es sich um eine sinnlose Aneinanderreihung von Silben handeln, doch das glaubte er nicht. Er glaubte nicht mehr an Zufall. Er schloss die Kamera an seinen Laptop an und suchte die Stelle mit dem Schrei heraus. Dann spei-cherte er den Ton zu dieser Stelle als Audiodatei ab, da er sie per E-Mail verschicken wollte.
Als Nächstes nahm er sein Handy und rief Doriano Alfieri an. Pater Alfieri war der neue Linguist und Paläograph der Wölfe Gottes. Er hatte die Nachfolge eines Mannes angetre-ten, der beinahe eine Legende war: Giacomo Zanobi. Seine Geschichte war so erstaunlich wie traurig. Mit knapp siebzig Jahren beherrschte er über dreißig Sprachen fließend, konnte in weiteren fünfzig oder sechzig Sprachen lesen und hatte mehr oder weniger rudimentäre Kenntnisse in vielen weiteren Sprachen – das waren insgesamt rund dreihundert Sprachen. Er war ein besonnener, liebenswürdiger Mann, doch es war unmöglich, ein zusammenhängendes Gespräch mit ihm zu führen, und das lag nicht etwa an einem Charakterfehler. Durch das lange, intensive Sprachenstudium musste irgendein Mechanismus in seinem Gehirn beschädigt worden sein, so dass sich alle Sprachen, die er beherrschte, zu einer einzigen Sprache vermischten. Sozusagen das Äquivalent zur babyloni-schen Sprachenverwirrung in der Bibel, nur in einer einzigen Person vereint. Zanobi verstand alles, was man zu ihm sagte, doch er war nicht in der Lage, sich bei seiner Antwort auf eine einzige Sprache zu beschränken. Dadurch war er fast nie auf Anhieb zu verstehen, besonders wenn er einen Mischmasch aus extrem selten gesprochenen Sprachen wie Sanskrit, der Hopi-Sprache und Volapuk verwendete. Seine Arbeit als renommierter Linguist begann darunter zu leiden. Daraufhin schied er bei den Wölfen Gottes aus, zu deren Vorteil wie auch aus freiem Willen. Mittlerweile verfügte er über einen Gehilfen, der ihm in aufopferungsvoller Arbeit und vermittels ständiger Wiederholungen ermöglichte, seine Forschungen fortzusetzen. Cloister bedauerte Zanobis Ausscheiden bei den Wölfen, denn er schätzte ihn sehr.
»Pater Doriano Alfieri am Apparat.«
Dieser knappe Satz am anderen Ende der Telefonleitung riss Albert aus seinen Gedanken.
»Ich bin’s, Cloister.«
»Albert!«, sagte der andere mit nunmehr deutlich liebenswürdigerer Stimme. »Wie geht es dir?«
»Gut, danke. Ich bin im Einsatz, wie immer … Entschuldige die Störung, aber ich habe hier eine Tonaufnahme, von der ich möchte, dass du sie dir einmal anhörst.«
»Selbstverständlich.«
»Ich weiß nicht, ob sie irgendeinen Sinn ergibt. Aber falls ja, muss ich wissen, was das, was da gesagt wird, bedeutet. Ich schicke dir die Datei jetzt gleich per E-Mail. Einverstanden?«
»In Ordnung. Ich warte.«
Cloister öffnete sein E-Mail-Programm und sandte Alfieri eine Nachricht mit der Audiodatei.
»Abgeschickt.«
»Gut … Mal sehen, ich schaue rasch die neuen Nachrichten durch. Warte mal, jetzt lädt sie herunter … Ich hab sie.«
Durchs Telefon lauschte Cloister schweigend, als sein Kollege sich die Audiodatei mehrmals anhörte.
»Tut mir leid«, sagte Pater Alfieri schließlich. »Ich erkenne die Sprache nicht. Es gibt da zweifellos ein
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