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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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Petrus Jesus so leicht hatte verleugnen können. Nicht aus Unglauben, sondern aus Schwäche, aus Unsicher-heit, aus Angst. Er fühlte sich wie ein Seemann, der in einem Sturm den Halt verliert. Inwiefern mochte in Jesu letztem Satz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« die Wahrheit verborgen sein? Welches war die Wahrheit, die der Kodex im Geheimarchiv des Vatikan ihm verhieß? Wer oder was hatte ihn bisher gelenkt, ihn jetzt sogar bis nach Boston geführt, damit er das Rätsel ergründete, mit dem er sich bereits so lange beschäftigte?
    Kardinal Franzik hatte gesagt, er sei am besten befähigt, dieses unergründliche Rätsel zu lösen. Daran hegte Cloister allen Ängsten und Sorgen zum Trotz auch keinerlei Zweifel. Irgendwie wusste er, dass er dazu auserwählt worden war.

16
    Boston
    Nach seiner Unterredung mit Mutter Victoria hatte Pater Cloister lange nachgedacht. In seinem Aktenkoffer steckten die Hefte mit den Berichten über Dr. Barretts Therapiesitzungen mit dem alten Daniel Smith. Außerdem hatte das Bis-tum ihm eine Mini-DVD mit der Aufnahme des an Daniel vorgenommenen Exorzismus geschickt.
    Cloister beabsichtigte zunächst nicht, sich mit Tomás Gómez, dem Priester, der das Ritual durchgeführt hatte, zu unterhalten. Vielleicht würde das überhaupt nicht nötig sein. Vielleicht genügten das Video und die ärztlichen Berichte, um den Vorfall zu verstehen. Einstweilen würde er sich auf das unmittelbar Anstehende beschränken. Er wollte unbedingt die Stelle des Videos sehen, an der der alte Daniel »DIE HÖLLE IST ÜBERALL« gesagt hatte, um zu begreifen, warum der Exorzist und die Psychiaterin sich derart erschreckt hatten, dass die Ärztin sogar verschwunden war. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ein Mensch, der sich der Heilung oder Linderung psychischer Leiden verschrieben hatte, durch einen seiner Patienten selbst in Mitleidenschaft gezogen wur-de.
    Wenn man ohnehin schon bezweifelte, dass es Zufälle gab, war dies ein guter Augenblick, um vollends zu der Überzeugung zu gelangen, dass sie nicht existierten. Nichts von dem, was seit der Exhumierung des spanischen Pfarrers vorgefallen war, schien Cloister ohne Grund, rein zufällig, einzig aus ei-ner unmotivierten Laune des Schicksals heraus geschehen zu sein. Ganz im Gegenteil: Alles hing miteinander zusammen, eins fügte sich zum anderen – auch wenn das Muster noch nicht zu erkennen war – und bewegte sich auf die große Auf-lösung zu. Allein die Tatsache, dass er selbst es so empfand, überzeugte ihn davon.
    Auf der Taxifahrt zurück zu seiner Unterkunft fiel Cloister etwas ein, was Schwester Victoria gesagt hatte, ehe sie sich voneinander verabschiedet hatten: »Hier sind Mächte am Werk, die wir zu kennen glauben, aber in Wirklichkeit ken-nen wir sie nicht. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich fürchte, ich habe recht. Seien Sie vorsichtig. Gott schütze Sie.«
    Unbewusst drückte der Priester seinen Aktenkoffer an sich. Das Taxi bog in die Beacon Street ein, in der sich der be-rühmte Pub Bull & Finch gleich gegenüber dem Public Gar-den befindet. Als sie an dem Lokal vorüberfuhren, sagte der Taxifahrer: »Schauen Sie, da ist das Cheers.«
    Cloister schreckte aus seinen Gedanken hoch.
    »Pardon, wie war das?«
    »Das Cheers«, wiederholte der Mann.
    »Ah, sicher.«
    »Sie wissen doch, die Fernsehserie? Meine Frau und ich haben sie sehr gerne gesehen. Wir sehen uns auch alle Wiederholungen an.«
    Das Lokal, auf das der Taxifahrer Cloister aufmerksam gemacht hatte, war der Ort in Boston, der in der übrigen Welt die größte Bekanntheit genoss. Nun kam eine angenehme, belanglose Unterhaltung in Gang. Der sympathische Taxifahrer stammte aus einer seit Generationen in Boston ansässigen Familie und war ein guter Kenner der Stadtgeschichte. Er erzählte von den englischen Stadtgründern, von Paul Revere, vom Unabhängigkeitskrieg, von der Kirche, in der die ersten Reden gegen die Sklaverei gehalten worden waren, sowie von den Schiffswerften und dem Hafen, aus dem angeblich die schnellsten, wendigsten Segelschiffe der letzten zweihundert Jahre ausgelaufen waren.
    Als das Taxi sein Ziel erreichte, verspürte Cloister leises Bedauern. Die Erzählungen des Taxifahrers waren interessant gewesen und hatten ihn von seinen Sorgen abgelenkt. Als er die Tür des Wagens von außen zuschlug, blätterte er damit zugleich um zur ersten Seite seiner neuen Untersuchung – einer Untersuchung, die vielleicht das Ende seiner

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