617 Grad Celsius
idyllisch im Grünen. Der Mann am Empfang nannte Anna die Nummer des Zimmers.
Der Flur im ersten Stock war hell und freundlich, das Linoleum sauber. Gerahmte Drucke alter Meister an den Wänden. Ein frischer Blumenstrauß auf dem Tresen, der den Zugang zum Personalraum abschirmte.
Anna fand die Tür zum Zimmer ihrer Mutter. Sie zögerte einen Moment, dann klopfte sie.
Keine Antwort.
Sie trat ein. Ein kurzer Flur, von dem ein Badezimmer abzweigte. Anna gelangte in ein geräumiges Einzelzimmer mit einer Loggia, von der ein herrlicher Fernblick über das Tal nach Süden ging. Die Glastür war gekippt, Frühlingsluft drang herein.
Eher eine Hotelsuite als ein Krankenhauszimmer: Außer dem Bett gab es zwei Sessel, Couchtisch, Musikanlage sowie einen Fernseher mit DVD-Player. Zudem hatte Johanna Winkler ein paar persönliche Dinge aus ihrer Wohnung mitgebracht: eine Sammlung von Büchern und Musik-CDs auf dem Sideboard, das alte, signierte Poster von Osiris Trance an der Wand.
Der Sänger Edgar Schwab mit seinem karierten Piratentuch.
Anna griff nach der DVD-Hülle auf dem Fernsehgerät und las: Festival Express – es war die Dokumentation einer Konzertreise verschiedener Bands quer durch Kanada mit dem Zug, Sommer 1970. Auf dem Cover Janis Joplin mit der obligatorischen Whiskeyflasche.
Es passte zu Jo, fand Anna.
Sie wollte kehrtmachen, um irgendwo draußen nach ihr zu suchen, als sie ein kurzes Schnaufen vernahm. Das Bett war nicht leer.
Es dauerte einen Moment, bis sie das ausgemergelte Gesicht erkannte, das in den Kissen versunken war.
»Hallo«, sagte sie, doch ihre Mutter rührte sich nicht.
Erschrocken lief Anna hinaus. Die Worte ihres Vaters: Ihr Allgemeinzustand war wirklich kritisch. Eine Frau lief vorbei, das Namensschild am Sweatshirt wies sie als Krankenschwester aus. Anna sprach sie an: »Was ist mit meiner Mutter los?«
»Frau Winkler, Zimmer zwölf?«
»Ja.«
Die Schwester eilte ins Zimmer. Auch ein Arzt hetzte herbei. Annas Mutter erhielt eine Spritze in den Arm, erst beim dritten Versuch traf der Arzt die Vene.
Währenddessen erklärte er Anna, dass Johanna Winkler am Samstag einen Rückfall erlitten habe, nachdem die Entgiftung dank des Einsatzes von Distraneurin recht problemlos verlaufen sei. Verstärkt würden die akuten Vergiftungssymptome durch chronische Schäden, die der jahrzehntelange Alkoholmissbrauch hervorgerufen habe. Der Magen-Darm-Trakt der Patientin sei entzündet, die Leber vergrößert, die Nerven angegriffen. Irgendwann verstand Anna nur noch ›Kontrollverlust‹ und ›Kollaps‹.
»Rückfall, wie kann das sein?«, fragte sie. »Kommt man in dieser Klinik an Alkohol?«
»Natürlich nicht, aber wir schließen unsere Patienten nicht ein. Einen Therapieerfolg kann Ihre Mutter nur bei Akzeptanz der Krankheit und freiwilligem Entschluss zur Abstinenz erzielen.«
»Was werden Sie jetzt tun?«
Er tätschelte Jos Hand. »In wenigen Tagen wird Frau Winkler wieder am Therapieangebot teilnehmen können, vor allem an der Motivationsrunde mit den anderen Patienten. Wir werden versuchen, ihr Selbstwertgefühl aufzubauen, ihr den Glauben an die eigene Kraft wiederzugeben. Ein Rückfall ist keine Katastrophe, wenn die Gründe aufgearbeitet werden und sich die Patientin erneut für die Abstinenz entscheidet.«
Anna zeigte ihm die DVD-Hülle mit dem Bild von Janis Joplin. »Mutters Idole haben alle getrunken oder gefixt. Warum lassen Sie zu, dass sie solche Filme sieht?«
»Ein Rückfall erfolgt nicht aufgrund eines äußerlichen Reizes, sondern der Grund liegt tief in der Seele der Patientin. Sucht kann nie geheilt, sondern nur zum Stillstand gebracht werden. Wir können niemanden auf Dauer kontrollieren. Irgendwann soll Ihre Mutter wieder zu Hause leben und den alltäglichen Reizen widerstehen können. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist nicht ganz unten, sondern nur ein paar Stufen auf der mühsam erklommenen Treppe zurückgerutscht. Die Möglichkeit zur Abstinenz besteht weiterhin.«
Anna nickte, aber sie glaubte ihm kein Wort.
Ihre Mutter meldete sich mit rauer Stimme: »Karin?«
»Nein, ich bin Anna, deine Tochter.«
»Anna-Luna.«
Arzt und Schwester verabschiedeten sich. Anna setzte sich auf den Bettrand. Jo richtete sich mühsam auf, Anna half und stopfte ihr die Kissen in den Rücken. Ihre Mutter war federleicht und sah weit älter aus als vierundfünfzig. Das einstmals lange Haar war kurz geschnitten und am Ansatz grau.
Jo zwinkerte und fragte: »Hast du mir
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