617 Grad Celsius
wieder?«, fragte die alte Frau, die erst vierundfünfzig war.
Anna umarmte sie.
Sie heulte fast den ganzen Rückweg über, daran denkend, dass alles ganz anders hätte kommen können ohne den verdammten Streit ihrer Eltern um eine stinknormale Razzia vor fast dreißig Jahren.
Polizeibeamte wurden häufig mit falschen Vorwürfen terrorisiert. Kriminelle versuchten, den Spieß umzudrehen, und Anwälte halfen ihnen dabei. Und die Medien liebten diese Verschwörungstheorien.
Jo war allzu bereitwillig auf die Verleumdungen hereingefallen. Eheleute sagten sich gern schlimme Dinge nach, wenn ihre Beziehung in die Brüche ging.
Ein Bernd Winkler begeht keine Straftaten, dachte Anna.
Im Unterschied zu ihr selbst.
8.
November 2003
Der Kerl kam näher. Er schwitzte und die Narbe am Kinn war gerötet. Anna zog die P6 aus dem Holster. Sie trug die Dienstwaffe nur selten, aber heute kam es darauf an, Eindruck zu machen.
Sie richtete den Lauf auf Kurt Essig, bückte sich rasch nach dem Foto, das ihr entglitten war, und hielt es dem Kinderficker entgegen. »Ich hoffe, Sie haben ihn wenigstens gut bezahlt.«
Essig schob die Haarsträhnen zurecht. Anna erkannte, dass er ein Toupet trug. Der Kerl brummte: »Er hat mich beklaut, die kleine Sau.«
»Freut mich, das zu hören.«
Odenthals Mitbewohner kaute auf seiner Unterlippe. Dann fragte er: »Was wollen Sie?«
»Der Junge ist höchstens zwölf oder dreizehn.«
»Asiaten wirken jünger, als sie sind.«
»Mal sehen, wie das der Richter beurteilt.«
Essig wurde laut: »Und wie rechtfertigen Sie den Einbruch in meine Privaträume? Ohne Durchsuchungsbeschluss! Wie wird der Richter das sehen? Zeigen Sie mich an und Sie sind die längste Zeit Polizeibeamtin gewesen.« Die Idee schien ihm zu gefallen – Essig rieb sich die Hände. »Eine klassische Pattsituation, so nennt man das wohl.«
»Odenthal war in der Nacht zum 31. Januar nicht in dieser Wohnung. Geben Sie das endlich zu! Gemeinsames Fernsehen ist die dümmste Ausrede, die ich kenne.«
»Wenn es aber so war?«
»Ihr Freund ist ein gefährlicher Psychotiker.«
»Seit ich ihn kenne, hat er die Krankheit im Griff.«
»Sie hätten sein Opfer sehen sollen. Sie wissen genau, dass wir Blut an Odenthals Schuhen und an seiner Jacke gefunden haben, hier, im Zimmer nebenan. Lohses Mutter hat bestätigt, dass Daniel Angst vor Ihrem Mitbewohner hatte. Gestehen Sie endlich, dass Ihr Gerede vom gemeinsamen Fernsehabend eine billige Gefälligkeitslüge ist.«
»Kommt nicht infrage.«
»Einer wie Odenthal ist im Stande, es wieder zu tun.«
»Geben Sie mir das Foto, junge Frau.« Essig streckte die Hand aus. »Ich schlage Ihnen einen fairen Handel vor. Sie vergessen meine Affäre mit diesem kleinen Bastard und ich verzichte auf eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und versuchter Nötigung zum Meineid.«
»Sie sind Lehrer?«
»Ja, wieso?«
»Was wird Ihr Schulleiter dazu sagen, wenn er dieses Foto zu Gesicht bekommt?« Sie hielt es hoch, außerhalb der Reichweite ihres Gegenübers.
Der Kerl lächelte nicht mehr. Er kratzte sich die Narbe.
Anna fügte hinzu: »Und der Elternbeirat. Der Förderverein Ihrer Schule. Lauter ehrwürdige Leute, denen das Wohl ihrer Kinder über alles geht, nicht wahr? Wie werden sie reagieren, wenn sie das Bild sehen? Das Schönste ist: Ich brauche Sie gar nicht anzuzeigen. Ich kann die Kopien anonym verschicken. Und selbst wenn es mich den Job kosten würde: Die Sache wäre es mir wert.«
Essig verschränkte die Arme und nagte erneut an der Unterlippe. Das schiefe Haarteil wirkte grotesk. Die Lippe begann zu bluten.
Leise fragte er: »Was verlangen Sie von mir?«
Bingo. Anna ballte die Faust. Sie hatte im letzten Moment das Steuer herumgerissen, um dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Es war das Mindeste, was sie für den toten Daniel Lohse und seine Eltern hatte tun können.
Ihre unkonventionelle Methode – niemand würde je davon erfahren.
9.
Mai 2005
Koslowski und sein Partner Bader hatten eine Pause eingelegt. Nachtschicht der B-Tour, nur das Zeitungsrascheln durchbrach die Stille in der Hauptwache der Polizeiinspektion eins.
Bader blätterte in der Morgenpost – druckfrisch vor ein paar Stunden vom Kiosk geholt. Koslowski nippte vom Kaffee und schnappte sich den Reiseteil. Annoncen schicker Wellness-Hotels, die ihn an die unbezahlbaren Urlaubswünsche seiner Frau erinnerten.
Sein jüngerer Kollege brütete über dem Leitartikel, fuhr sich über die Bartstoppeln und bewegte
Weitere Kostenlose Bücher