617 Grad Celsius
was mitgebracht?«
»Was denn?«
Sie machte eine Trinkbewegung.
»Spinnst du?«
»Nur ein Scherz.«
»Dein Humor ist wirklich umwerfend.«
»Ich bekomme selten Besuch. Bernd kam nur am Anfang. Einmal war Uwe da, es passte offenbar zwischen seine Wahlkampftermine. Das Essen ist gut in der Klinik, nur fehlt mir der Appetit. Das liegt an diesen Kapseln. Und ich hasse die Gruppentherapie.«
»Warum, Mama?«
»Sag Jo. Du hast früher immer Jo zu mir gesagt. Weißt du noch?«
»Die Motivationsrunde ist wichtig für dich, sagt der Arzt.«
»Du bist da so ausgeliefert. Ich hab keine Lust, über alles zu reden. Wer nicht mitmacht, wird von den anderen auseinander genommen. Dafür bin ich noch zu schwach.«
»Magst du mir die alte Geschichte erzählen, über die du dich neulich mit Karin unterhalten hast?«
»Welche Geschichte meinst du?«
»Wann war Karin bei dir?«
»Jetzt weiß ich, was du meinst. Edgar Schwab.«
Jo schob ihre Beine aus dem Bett und stakste auf das Sideboard zu. Als Anna sie stützen wollte, wehrte sie ab. Jos Füße tasteten sich voran, als spürten sie es erst mit Verzögerung, wenn sie den Boden berührten.
Sie fummelte eine CD aus der Hülle und sagte: »Deine Lieblingsband ist Nirvana, stimmt’s?«
»Mama, damals war ich vierzehn.«
»Jo.«
»Okay, Jo.«
»In deinem Alter stand ich auf das hier.«
Ihre Mutter bearbeitete erfolglos die Fernbedienung des CD-Players. Anna griff ein und setzte das Gerät in Gang.
Ein synthetischer Sound, hypnotisch treibender Rhythmus, ganz ohne Schlagzeug oder Gitarren. Wie eine frühe Form von Techno, nur viel melodischer. Dass es Osiris Trance auch auf CD gab, nicht nur auf schwarzem Vinyl, war Anna neu.
Eine traurige Stimme sang.
Wenn wir im Dunkeln schweben
Du kannst mir so viel geben
Schwarze Flammen greifen nach mir
Ich brenne – vor Gier nach dir.
In deinem Angesicht
Explodiert pures Licht
Schwarze Flammen lodern hoch
Ich vergehe – und du erkennst mich doch.
Als das Stück zu Ende war, sagte Jo: »Bernd hat Edgar Schwab damals Drogen untergeschoben und ihn im Prozess als Dealer hingestellt.«
»Warum sollte er das getan haben?«
»Politiker sind so.«
»Papa ist anders.«
»Stimmt. Wir haben uns während der Razzia sogar einen Joint geteilt. Schwarzer Afghane. Dabei haben wir uns kennen gelernt, aber diese Geschichte hast du schon hundertfach gehört.«
»Tausendfach.«
»Auch bei Edgars Beerdigung ist das Zeug geraucht worden. Die Fans haben alle Gräber im Umkreis zertrampelt, so groß war der Andrang. Ja, Bernd hat Unrecht getan und Edgar hat das nicht verkraftet und sich deshalb das Leben genommen. Manchmal frage ich mich, was aus Edgar noch geworden wäre, wenn es diese Razzia nicht gegeben hätte.«
Anna war es müde, ihrer Mutter zu widersprechen. Es gab nichts als die verleumderische Aussage irgendeines Zeitgenossen des Musikers. Niemand außer Jo hatte das Gerücht, dass ihr Vater Schwab reingeritten hätte, jemals ernst genommen.
Johanna Winkler fuhr fort: »Aber du hast Recht, es ist eine alte Geschichte, die keinen mehr kümmert. Und Bernd sorgt sich um mich, obwohl er es nicht müsste. Rat mal, wer mir den Aufenthalt in diesem Luxusschuppen bezahlt?«
»Karin ist tot«, sagte Anna.
»Ich weiß.«
»Warum hast du mich dann für Karin gehalten, vorhin, als du aufgewacht bist?«
»Was redest du da?«
Wieder zog es Anna vor, nicht weiter darauf einzugehen. Vielleicht war es ihrer Mutter peinlich.
Jo setzte sich auf die Bettkante und erklärte: »Ich weiß es, weil mich ihr Mann gestern Nachmittag angerufen hat. Ein Verkehrsunfall, sagte Michael. Danach bin ich ausgebüxt und hab mir im Dorf einen Drink genehmigt. Nette Leute dort, aber sie saufen grauenhaften Schnaps.«
»Erzähl mir von deinem letzten Treffen mit Karin. Hat sie über den Mord an Daniel gesprochen?«
»Daniel. Ich hätte gern das Bild, das er von dir gemalt hat.«
»Erinnerst du dich nicht mehr? Hat Karin vielleicht Onkel Uwe erwähnt?«
»Ich bin müde, Anna-Luna. Mein Gott, ich bin so durcheinander. Bald werden sie mich wieder in diese blöde Gesprächstherapie schicken. Ich habe Angst davor.« Jo angelte ein Buch vom Sideboard. »Hermann Hesse, Steppenwolf. Ich komme kaum noch zum Lesen. Nimm es mit!«
Anna lehnte ab.
Daraufhin zog ihre Mutter eine Schublade auf und schenkte ihr einen Karton voller Schatullen und Papierkram. Angeblich befand sich edles Briefpapier aus Amalfi darunter und ein Füller mit goldener Feder.
»Kommst du
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