617 Grad Celsius
Teile der Giebel links und rechts der Lücke herabgebröckelt und die weitere Suche war deshalb unterbrochen worden. Fieberhaft arbeiteten Feuerwehr und THW daran, die Außenwände der Nachbarhäuser abzustützen. Risse klafften und mit Rüstholz und Baukränen drückten die Helfer gegen die einsturzgefährdeten Mauern.
»Wie kommt es, dass immer noch Gas ausströmt?«, fragte Anna.
Ein Feuerwehrmann erklärte: »Die Stadtwerke arbeiten mit Niederdruckleitungen. Im gesamten System gibt es keine Absperrschieber. Man muss erst die Versorgungsleitung links und rechts des Hauses freilegen und kappen.«
Anna wandte sich an die beiden Brandermittler und machte eine Geste in Richtung des Trümmerbergs. »Habt ihr schon eine Idee, was die Ursache war?«
»Keine Ahnung«, antwortete Lohse. »Vielleicht die Laterne vor dem Haus oder die Zuleitung. Manchmal genügen Straßenarbeiten, um ein Rohr aus der Verschraubung zu reißen.«
Kollege Immel mischte sich ein: »Nach einem Sprengstoffanschlag sieht es jedenfalls nicht aus. Dann wären die Bruchstücke kleiner und in größerem Umkreis verteilt.«
Michael Lohse führte zitternd einen Glimmstängel zum Mund. »Wer weiß, ob wir’s jemals ganz aufklären können.« Er kramte in seinen Taschen nach einem Feuerzeug.
Anna bemerkte: »He, willst du, dass noch einmal alles in die Luft fliegt?«
»Sorry.«
Die Zigarette zerbrach, als er sie zurück in die Schachtel stopfte. Lohse deutete ein Lächeln an. »Bin leider noch nicht dazu gekommen, deinen Vater anzurufen.«
»Heute kommt er aus der Reha-Klinik nach Hause. Wenn das hier hinter uns liegt, sollten wir drei uns mal einen gemütlichen Abend machen.«
»Ja. Wir drei. Alles, was von unseren Familien noch übrig ist.«
Der Versuch, Michael aufzumuntern, war fehlgeschlagen, erkannte Anna.
Am Unglücksort konnte sie nichts weiter tun. Deshalb sagte sie: »Wenn ihr nichts dagegen habt, hör ich mich etwas um.«
Ein paar Häuser weiter befand sich der Parkplatz eines Supermarkts, auf dem das Rote Kreuz die evakuierten Nachbarn mit Tee und Brötchen versorgte. Helfer errichteten Zelte, ein Kran stellte Toilettenhäuschen ab. Mitarbeiter des Sozialamts verteilten Zettel mit Rufnummern und versprachen Notunterkünfte für alle, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen konnten.
Anna schnappte sich einen Becher Tee und befragte die Anwohner. Gerüchte gingen um: An dem eingestürzten Haus sei bereits seit Monaten ohne sichtbare Fortschritte herumgewerkelt worden. Die Arbeiter sprächen kaum ein Wort Deutsch. Die angebliche Ursache des Unglücks: der Anschlag einer Schwarzarbeitermafia oder Versicherungsbetrug des Hausbesitzers.
Ein Alter in Pyjama und Filzpantoffeln beschuldigte die Globalisierung und die USA. Sein Keifen hallte durch die Straße. Nachbarn versuchten, ihn zu beruhigen. Sie erklärten Anna, dass der Mann die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte.
Ein kleiner Junge zupfte Anna am Ärmel.
»Frau Küppers, Frau Küppers!«, rief er aufgeregt.
»Was ist mit ihr?«
»Sie hat einen Mann gesehen!«
Anna folgte dem Kleinen in ein Zelt, in dem eine rothaarige Frau im Trenchcoat auf einem Feldbett lag. Der Junge stupste sie an.
Die Frau schreckte auf. Ihr ungeschminktes Gesicht wirkte bleich unter der Neonröhre.
»Frau Küppers?«, fragte Anna und wies sich aus. »Sie haben etwas beobachtet?«
»Ja, haben Sie eine Zigarette?«
»Ich rauche nicht.«
Die Rothaarige zog das Revers ihres Mantels zusammen, als friere sie. »So gegen drei«, sagte sie. »Im Radio liefen gerade Nachrichten. Ich konnte nicht schlafen und ging zum Rauchen ans Fenster. Da sehe ich diesen Mann. Er guckte in ein Auto, das vor dem Nachbarhaus parkte.«
»Was für ein Auto?«
»An den Typ kann ich mich nicht erinnern. Zuerst dachte ich, der Mann will den Wagen klauen. Doch dann ging er in das Haus.«
»In die Nummer 18?«
Die Frau nickte.
»Wenige Minuten vor der Explosion?«
»Ja. Ich hatte mich gerade wieder hingelegt, als es krachte. Eine Tür ist in mein Zimmer geflogen. Mein Gott, vor Schreck hab ich ins Bett gepinkelt.«
»Es ist vorbei«, sagte Anna.
Frau Küppers schüttelte den Kopf. »Ich will hier nicht länger wohnen.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Jung und ganz in Schwarz gekleidet. Das Gesicht habe ich nicht gesehen.«
Anna bedankte sich.
Die Frau hustete und bemerkte, als sei es wichtig: »Das Licht war an.«
»Bitte?«
»Das Licht an dem Auto. Er hätte es besser klauen
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