617 Grad Celsius
musste man kilometerweit gehört haben.
Die Schützenstraße 18 wirkte wie eine Zahnlücke in der geschlossenen Häuserzeile – provisorisch errichtete Scheinwerfermasten beleuchteten einen Trümmerberg aus Steinen, Balken und Betonteilen. Aus der Mitte des Schutthaufens ragten Teile des Treppenhauses und einer Mittelwand, drei Stockwerke hoch wie ein mahnender Finger. Dielen hingen daran, fast ein kompletter Fußboden, der jederzeit abzustürzen drohte.
Ziegel, Fensterrahmen und hölzerne Zargen waren bis an die gegenüberliegende Fassade geschleudert worden, die Außenmauern gleichsam auf die Straße geklappt. Eine Lawine von Mauerteilen, aus der eine geknickte Straßenlaterne hervorlugte.
Einen Brandherd konnte Anna auf den ersten Blick nicht ausmachen. Kein Rauch. Aber es roch irgendwie faulig.
Gas.
Es wimmelte bereits von Helfern: Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Rotes Kreuz. Hundeführer mit ihren Suchhunden – die Tiere hechelten und zerrten an den Leinen. Arbeiter der Stadtwerke rissen links und rechts die Straße auf.
Unter den wenigen Leuten, die weder Blaumann noch Uniform trugen, entdeckte Anna den Kollegen Michael Lohse. Ein Lichtblick im Chaos, dachte sie und gab ihm die Hand.
Er ist grau geworden, stellte Anna fest. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen gerötet – dass er so miserabel aussah, lag nicht nur daran, dass man ihn so früh aus dem Schlaf geklingelt hatte. Er roch nach Schnaps.
»Schön, dass wir zusammenarbeiten«, antwortete Anna und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was sie wirklich empfand.
Der frühere Partner ihres Vaters zeigte ein unsicheres Lächeln. »Willkommen zurück in Düsseldorf!«
Teil II
Im Trümmerfeld
Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen.
Mark Twain, Die Abenteuer des Tom Sawyer
11.
September 1976
Im Capri war es unerträglich heiß. Erst nach langem Orgeln sprang der Motor an. Bernd Winkler setzte in Gedanken eine neue Karre auf seine Wunschliste.
Er steuerte den Nachbarort Holzbüttgen an, um Michael Lohse abzuholen, mit dem er eine Fahrgemeinschaft bildete, um Benzin zu sparen. Lohses Reihenhaus an der Edelsteinstraße war noch unverputzt. Die Hypothekenzinsen schnürten ihn und seine Frau ein, wie Winkler wusste. Er stellte sein Auto vor dem kastenförmigen Volvo-Kombi des Kollegen ab und ließ den Motor laufen, während er klingelte.
Karin öffnete. Sie trug Gummihandschuhe, eine schmutzige Schürze, die Haare hochgesteckt. Gartenarbeit.
»Michael ist noch im Bad«, sagte sie und zog Winkler in den Flur, wo sie sich gegen ihn drängte. Ihr Kuss schmeckte nach Kaffee.
Als sie von ihm abließ, flüsterte sie: »Es kann so nicht weitergehen.«
»Wieso?«
»Wir müssen es ihm sagen.«
In der Küche lief das Radio. Die vier Schweden sangen Fernando. Winkler fand, dass Michael und seine Frau sehr gut zusammenpassten. Er selbst hatte von fester Beziehung und Zusammenleben erst einmal genug.
Er antwortete: »Wir sollten nichts überstürzen.«
Sie blickte ihn mit großen Augen an, als sei er ein Außerirdischer und gerade vom Himmel gefallen.
Im Badezimmer beendete Michaels Elektrorasierer sein Brummen. Der Kollege kam aus dem Bad gestürmt und angelte seine Jeansjacke von der Garderobe. Er roch nach billigem Rasierwasser. Ein paar Stoppeln unter dem Kinn hatte er übersehen. Seine Frau reichte ihm die lederne Aktentasche mit den belegten Broten. Michael Lohse drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Aufgekratzt sagte er zu Winkler: »Stell dir vor, Karin hat beim Pflanzenkaufen die Gattin von so ’nem Thyssenmanager kennen gelernt und soll jetzt für viel Geld deren Garten in Meerbusch gestalten.«
Karin schlug die Augen nieder.
Winkler fegte sich Erdkrümel vom Hemd und machte, dass er rauskam.
Das gelbe Schild am Ende der Autobahn verhieß Landeshauptstadt Düsseldorf. Kurz darauf rollten sie über die Rheinkniebrücke. Vor ihnen blitzten zahllose Autoscheiben in der Sonne. Winkler ließ die Linke aus dem Fenster baumeln und genoss das Gefühl, in die Großstadt einzutauchen.
Er war in Datteln aufgewachsen, im nördlichen Ruhrgebiet, wo der Schnee grau vom Himmel fiel und die Kühe auf den Feldern umkippten, wenn der Wind den Mief aus den Fabrikschloten herantrug. Dagegen war Düsseldorf die große, weite Welt. Selbst heute noch, da er längst auch die hässlichen Seiten der Stadt kannte.
Auf der Herzogstraße stand die Ampel auf Rot, der Capri kam hinter einem dicken Commodore zum
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