617 Grad Celsius
teuren Bildbänden im Großformat. Darunter ein abgegriffenes Buch, das Anna ins Auge stach. Auf dem Titel große, abgerundete Lettern im Stil der Siebziger: Osiris Trance.
Anna schlug es auf und blätterte durch Fotos von Studiosessions und Bühnenshows. Am Mikro der Typ mit dem Piratentuch. Die Credits auf der letzten Seite wiesen Peter Uhlig als den Fotografen aus und offenbar hatte er auch die Auftritte der Band choreographiert.
Anna besah sich die Kassettenhüllen in den Regalen. Rasch durchschaute sie Uhligs Ordnung. Es gab Spielfilme, Mitschnitte von Fernsehberichten, Dokumentationen von Ausstellungen, Selbstgedrehtes. Streng chronologisch aufgereiht.
Nichts, was von einer rechtsgerichteten Einstellung zeugte.
Dafür stieß sie immer wieder auf den Namen Edgar Schwab. Eine VHS-Kassette trug das blaue Logo des WDR. Schwarze Flammen greifen nach mir – Leben und Tod eines Musikgenies.
Wieder musste Anna an die Fernsehsendung vor fast zwanzig Jahren denken, die zum Streit ihrer Eltern geführt hatte. Wie Jo hatte offenbar auch Uhlig nicht nur für den Popstar gearbeitet, sondern ihn darüber hinaus verehrt.
Anna tütete das Videoband ein, um es mitzunehmen.
Das Telefon war ein schnurloses Gerät der Firma Siemens. Anna drückte die Wahlwiederholungstaste und notierte die Nummern, die das grüne Display anzeigte. Vier davon waren ohne Vorwahl, also lokal. Eine begann mit zwei Nullen – eine Auslandsverbindung. In der sechsten Ziffernfolge erkannte Anna nach der 01071 eines Billiganbieters die 040-Vorwahl von Hamburg.
Sie legte den Apparat zurück und drückte die Klinken auf der rechten Seite des Eingangsbereichs: Gäste-WC, Badezimmer, Abstellkammer. Die vierte Tür führte auf einen kleinen Balkon.
Der Blick ging über Brachgelände bis zum Kraftwerk. Der Wind trug fernes Hundegebell herüber. Einzelne Tropfen fielen aus den Wolken.
Anna schloss die Balkontür. Sie hörte ein Rascheln und fand Lohse hinter dem Paravent. Er fuhr herum und hielt eine in Leder gebundene Kladde hoch. »Guck mal, sein Adressbuch. Vielleicht hilft das weiter.«
Sie packte es ebenfalls in die Tüte für Beweismittel.
In diesem Moment fielen ihr winzige Flecken an einem Fenster auf. Sie hoben sich kaum merklich vom Dreckfilm ab, der von unten hochgestiegen war und sich auf die Außenseite gelegt hatte. Behutsam kratzte Anna an den Sprenkeln.
Es sah aus wie getrocknetes Blut.
Sie ging in die Hocke und untersuchte die Dielen. Weitere feine Spritzer. Daneben war der Boden völlig sauber, ein Rechteck ohne Staub und Schuhspuren. Hier musste ein Teppich gelegen haben – vermutlich war er vom Täter entfernt worden.
Anna machte Michael darauf aufmerksam, dann zückte sie ihr Handy und verständigte die Kriminaltechniker.
Auf dem Hof fing Jonas Freyer sie ab und überreichte ihr ein Taschenbuch. »Hier, das hatte ich dir versprochen.«
Der schmale Band war zerlesen, als habe ihn der Gutachter während eines Strandurlaubs in der Mangel gehabt. Anna las den Titel: Gilbert K. Chesterton, Father Browns Einfalt .
Sie bedankte sich und lief weiter zum BMW ihres Vaters. Vor dem Wagen ertappte sie sich dabei, dass sie in die Hocke gehen wollte, um die Unterseite nach einer booby trap abzusuchen. Nein – sie war in Deutschland, nicht in Bosnien-Herzegowina.
26.
Während sie das Gewerbeviertel verließen, prasselte der Regen los. Ein Wolkenbruch, begleitet von kurzem Donnergrollen.
Michael Lohse fragte: »Meinst du, es war derselbe Täter, in der Schützenstraße und in Uhligs Atelier?«
»Die Handschrift ist identisch«, sagte Anna. »Der zweite Anschlag galt offenbar Uhligs Arbeit.«
An einer roten Ampel kramte sie ihr Handy hervor und versuchte, ihren Vater zu erreichen. Im Landtagsbüro hob niemand ab und unter seiner Mobilfunknummer meldete sich nur die Mailbox.
Während sie weiterfuhr, rief Anna ihren Hausarzt an. Sie bat die Sprechstundenhilfe um ein Rezept für eine Zwanzigerpackung Noctumed . Die Praxis lag unweit des Präsidiums.
»Hast du Schlafschwierigkeiten?«, fragte Michael.
»Ab und zu.«
Eine Viertelstunde später setzte sie den Kollegen vor dem Präsidium am Jürgensplatz ab. Der Schauer hatte sich abgeschwächt. Blaue Lücken taten sich am Himmel auf, weiße Wolkentürme leuchteten.
Beim Aussteigen sagte Michael: »Champagnerluft.« Verträumt blickte er zu Anna herüber. »Das Wort stammt von Karin. Eine Frischluftfanatikerin.« Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid, dass ich ihr keine Hilfe
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