617 Grad Celsius
sichergestellt. Benzin verdunstet sehr leicht. Die Explosionsgrenze liegt bei nur einem halben Volumenprozent Benzindampf in der Umgebungsluft. Die Fensterscheiben, teilweise auch die Rahmen, wurden herausgeschleudert. Dadurch strömte reichlich Sauerstoff herein und der Nachbrand ist entsprechend verheerend gewesen. Zufrieden?«
»Wunderbar. Ich hab’s sogar kapiert.«
»Das freut mich. Kollege Immel hat übrigens herausgefunden, dass dies das Studio eines Videokünstlers ist, der im Stockwerk darüber wohnt. Aber da macht keiner auf. Vermutlich ist er verreist.«
»Nein, er ist nicht in Urlaub.«
»Sondern?«
»Peter Uhlig ist tot, vermutlich ermordet.«
»Sag bloß – der Typ im Keller der Schützenstraße?«
»Erraten.«
»Also haben die beiden Anschläge etwas miteinander zu tun.«
»Quod erat demonstrandum. Wie hältst du’s in dem Gestank nur aus?«
»Halb so wild. So richtig giftig sind nur die Rußpartikel. Übrigens haben auch hier Teelichter die Verpuffung bewirkt. Der Täter hat sie angezündet, den Kanister geöffnet, einen Großteil davon vor den Regalen verschüttet und danach hatte er schätzungsweise drei bis fünf Minuten Zeit, um sich aus dem Staub zu machen.«
»Wann geschah es?«
»Während wir beim Frühstück saßen.«
»Fein, Jonas. Damit hast du ein Alibi.«
Vor dem Studio rieb Anna ihre Sohlen auf der Fußmatte ab. Michael Lohse tat es ihr nach.
»Er ist gut, nicht wahr?«, fragte er.
»Der Sachverständige? Wollen wir’s hoffen.«
Sie stiegen die Treppe hoch. In der Wohnungstür im ersten Stock war eine Milchglasscheibe eingelassen. Auch hier hatte sich Ruß niedergeschlagen.
Anna drückte die Klingel. Ein zweites Schloss im Türblatt bediente vermutlich einen Querriegel. Jetzt hätte sie gern Bruno Wegmann mit seinen Lock-Picking Tools an ihrer Seite gehabt.
Sie zog die Scheckkarte aus ihrem Portmonee und stocherte auf Klinkenhöhe in der Ritze. Wenn nicht abgeschlossen war, brauchte sie weder Wegmann noch den Schlüsseldienst.
Mit einem Klacken gab das Schloss nach.
Anna und Michael legten Schutzkleidung an, um keinen Dreck aus dem Erdgeschoss oder sonstige Spuren zu hinterlassen: Overall, Überschuhe, Plastikkappe, Latexhandschuhe.
Der KK-14-Kollege hielt Anna die Tür auf – ganz der Gentleman.
Das Loft war riesig, Säulen stützten die rund vier Meter hohe Decke. Rechts gingen Türen ab, weiter hinten befand sich eine offene Küchenecke. Die Fensterfront zur Linken war überschattet von Bäumen. Anna drückte den Lichtschalter.
Neonröhren flammten auf. Sämtliche Möbel strahlten in sterilem Weiß. Nicht unbedingt die typische Künstlerbude. Die Dielen waren ebenfalls weiß lackiert und mit wenigen bunten Teppichen belegt. Ein Paravent trennte den rückwärtigen Teil des Wohnraums ab. Regale voller Bücher und Videokassetten, ordentlich einsortiert bis unter die Decke.
Anna fiel auf, dass Lohse auf ein Gemälde neben dem Eingang starrte.
Es zeigte einen körperlos schwebenden Kopf. Helle Farben, die Konturen verschwammen mit dem Hintergrund. Ein junges Männergesicht, um die Haare wand sich ein gepunktetes Piratentuch – sofort erinnerte es Anna an das Poster im Klinikzimmer ihrer Mutter.
Edgar Schwab.
Sie nahm das Bild vom Haken. Auf der Rückseite war die Leinwand beschriftet: Für Peter zum Geburtstag 2002, D. L.
»Daniel«, sagte Anna und hängte das Bild zurück. »Sie kannten sich offenbar.«
»Vielleicht von der Akademie. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Junge mit einem rechtsradikalen Kunstprofessor in Kontakt stand.« Michael Lohse atmete tief durch. »Aber ich glaube, es gibt eine Menge Dinge, die ich über Daniel nicht wusste.«
Die Augen des Kollegen schimmerten. Anna berührte seinen Arm und sagte: »Warum hast du nach Karins Unfall keine Kur beantragt?«
»Das ändert auch nichts.«
»Du brauchst Erholung, sonst gehst du vor die Hunde.«
»Na und? Die Menschheit würde nichts vermissen.«
»Hör auf, so zu reden, Michael!«
Sie fuhr fort, die Wohnung zu inspizieren. Der Paravent bestand aus einem vierteiligen Holzrahmen, der mit weißem, halb transparentem Stoff bespannt war. Dahinter eine Sitzlandschaft aus violetten, roten und orangefarbenen Kissen, über der auf einem Podest das Bett aufragte.
Anna bestieg die Leiter. Zerwühltes Bettzeug. Spuren einer Gewaltanwendung konnte Anna nicht ausmachen.
Sie kletterte wieder hinunter. Ein Fernseher mit üblichem Videorekorder und DVD-Gerät. Daneben ein niedriger Glastisch mit
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