617 Grad Celsius
1996. Der Staatsschutz hatte gegen Uhlig ermittelt. Der Mann war Videokünstler und besaß einen Lehrauftrag an der Akademie. Aufgrund eines Hinweises waren Uhligs Atelier und seine Wohnung durchsucht worden. Die Kollegen hatten seinen Computer beschlagnahmt und auf der Festplatte jede Menge schräger Propaganda gefunden. Dazu Stapel von Flugblättern einer Gruppe, die sich Soziale Volksaktion nannte und vom Verfassungsschutz als rechtsextrem und gewaltbereit eingestuft wurde.
Anna hätte nicht vermutet, dass ausgerechnet Künstler und Akademieprofessoren für Nazischeiß empfänglich waren.
Das Kultusministerium hatte Uhlig eine Zeit lang von der Lehrtätigkeit suspendiert. Der Videofilmer war erkennungsdienstlich behandelt worden – daher seine Daten in der Sammlung des Bundeskriminalamts. Zu einem Prozess war es jedoch nicht gekommen, denn Uhlig war ansonsten nicht aufgefallen.
Anna stutzte, als sie las, von wem der Hinweis gekommen war. Bernd Winkler, Mitglied des Landtags und ehemaliger Polizist.
Teil III
Der Schwur
Don’t stop, thinking about tomorrow,
Don’t stop, it’ll soon be here,
It will be, better than before,
Yesterday’s gone, yesterday’s gone.
Fleetwood Mac, Don’t stop
25.
Anna Winkler jagte den BMW über die Bilker Allee ostwärts. Graue Wolken hatten sich während der letzten Stunden aufgetürmt und drohten mit einem Regenschauer.
»Schickes Auto«, bemerkte Lohse, der neben ihr saß und das Navigationssystem befingerte. Anna vermutete, dass sein uralter Volvo so etwas nicht besaß.
»Gehört meinem Vater.«
»Bernd verdient nicht schlecht als Abgeordneter, oder?«
Anna wich einem Lieferwagen aus, der in zweiter Reihe parkte. Ein entgegenkommender Kleinwagen hupte – Anna ignorierte ihn.
»Wusstest du von Peter Uhlig?«, fragte sie.
»Woher?«
»Ich meine, hat mein Vater jemals diesen Namen erwähnt?«
»Mir gegenüber nicht.«
»Ein Nazi-Sympathisant und so genannter Videokünstler. Das gibt dem Fall eine völlig neue Richtung. Oder glaubst du, er hat etwas mit den Geschäften des Hausbesitzers Gehring zu tun?«
Sie bog in die Kruppstraße ein. Uhligs Wohnsitz befand sich im Gewerbegebiet des Stadtteils Flingern-Süd. Lohse hatte es aufgegeben, das Navigationsgerät des BMW verstehen zu wollen. Er hielt den Stadtplan auf den Knien und dirigierte.
An ehemaligen Fabrikgebäuden suchten sie nach der Hausnummer. Schließlich wurden sie fündig und stellten das Auto ab. Über dem Eingang das Schild einer Großhandelsfirma, die sich auf Feinkost aus Italien spezialisiert hatte. Lohse wollte eintreten, doch Anna bemerkte einen Gabelstapler, der in einer Hofeinfahrt verschwand.
Sie sagte: »Wetten, dass sich Uhligs Bude im Hinterhaus befindet?«
Die Einfahrt mündete in einen asphaltierten Hof. Auf der Rückseite ein zweistöckiges Flachdachgebäude.
Davor parkten Streifenwagen. Uniformierte vor der Tür. Rot-weißes Absperrband flatterte im auffrischenden Wind. Wir sind nicht die Ersten, stellte Anna fest.
Im Erdgeschoss fehlten die Fensterscheiben. Glassplitter bedeckten den Asphalt. Ruß zog sich in breiten Streifen über den leeren Fensteröffnungen nach oben. Anna fiel der Anruf ein, den Jonas Freyer beim Frühstück erhalten hatte: Ich muss nach Flingern. Schon wieder eine Explosion .
Sie betrat die zerstörten Räume. Es stank nach verschmortem Plastik. Anna vernahm die Stimme des Sachverständigen und folgte dem Klang. Bruchstücke einer dünnen Zwischenwand bedeckten den Boden.
Die Explosion musste im dahinter liegenden Raum stattgefunden haben – so viel konnte sich Anna inzwischen zusammenreimen. Sie stieg über die Gipsbrocken und gelangte in einen Raum voller technischer Geräte: Monitore, Rekorder, Computer. Regale voller Kassettenhüllen. Das Meiste angebrannt, verkohlt und geschmolzen. Mörtelputz war abgeplatzt, Wände und Decke verrußt. Mittendrin stand Jonas und sprach seinen Befund in ein Diktiergerät.
Als er Anna bemerkte, drückte er die Stopptaste. »Observierst du mich oder kommst du nicht mehr von mir los?«
»Ich möchte dir nur ein wenig zuhören. Ich fühl mich so jung dabei.«
»Wirklich?«
»Ja, wie damals in der Fachhochschule. Wir hatten einen Dozenten, der fast so viele Fremdwörter benutzte wie du.«
»Bin ich so schrecklich? Also, im Unterschied zur Schützenstraße wurde hier ein Brandbeschleuniger verwendet, vermutlich Benzin. Wir haben den verschmorten Rest eines Plastikkanisters und eine geschmolzene Ausgusstülle
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