617 Grad Celsius
sein konnte.«
Ich war es auch nicht, dachte Anna, als Lohse die Stufen zum Eingang des Präsidiums emporschritt.
Sie wendete und fuhr die Schlaufe zur Bilker Allee, wo sie in zweiter Reihe vor einem gelblich geklinkerten Haus parkte. Der Aufzug brachte Anna zur Arztpraxis im dritten Stock. Dort empfing sie die Helferin, eine nette Rothaarige mit Brilli im Nasenflügel.
»Mein Rezept, bitte«, sagte Anna. » Noctumed. Ich habe angerufen.«
Die Rothaarige schüttelte den Kopf. »Der Doktor möchte mit Ihnen sprechen.«
»Keine Zeit. Echt nicht.«
»Er besteht aber darauf.«
Wenigstens musste Anna nicht warten. Sie klopfte und Dr. Hashemie, ein Iraner mit leiser Stimme und traurigen Augen, bat sie ins Zimmer und gab ihr die Hand. »Wie war’s in Bosnien?«
»Ich komme zu Ihnen, weil ich manchmal schlecht einschlafe.«
»Seit wann nehmen Sie Noctumed? «
»Seit ein paar Wochen.«
»Wie oft?«
»Nur gelegentlich«, sagte Anna und war überzeugt, dass sie mit der Lüge durchkam.
»Sie wissen, dass sämtliche Medikamente aus der Familie der Benzodiazepine abhängig machen können? Innerhalb von zwei Wochen tritt eine Gewöhnung ein, die Wirkung nimmt ab und der Patient erhöht die Dosis. Wie viele Tabletten nehmen Sie vor dem Einschlafen?«
»Eine.«
»Wirklich nur eine?«
»Manchmal zwei, je nachdem.«
»Sind Sie tagsüber manchmal schläfrig? Leiden Sie an Bewegungsstörungen, Muskelkrämpfen oder Sehbeschwerden? Doppelbilder, verschwommenes Sehen?«
»Nein.«
»Depressionen?«
Anna schüttelte den Kopf.
»Oder ein leichtes Zittern, wenn Sie das Mittel nicht nehmen? Schwitzen oder Unruhezustände?«
»Auch nicht.«
Hashemie blickte sie lange an, dann griff er zum Rezeptblock. »Sie sind eine intelligente Frau und wissen, was Sie tun. Aber Sie dürfen das Mittel wirklich nur im Notfall nehmen.«
Anna bedankte sich. Die Apotheke lag nur drei Häuser weiter. Der Laden hatte das Zeug vorrätig – die kommenden Nächte waren gerettet.
27.
Januar 2003
Der Kunstverein hatte fünf junge Künstler aus dem Rheinland zur Ausstellung eingeladen, darunter Daniel Lohse – sein erster großer Auftritt.
Zurück zur Malerei, Positionen und Perspektiven, so lautete der Titel. Obwohl die junge Frau des Ministerpräsidenten im Vorstand des Kunstvereins saß, hatte Uwe Strom noch nie zuvor eine Ansprache auf einer Vernissage gehalten. Anna fand, dass er nach dieser Rede auch als Kunstprofessor hätte durchgehen können.
»Wer hat Onkel Uwe das aufgeschrieben?«, fragte sie ihren Vater. Der lachte nur.
»Warum hast du deinen Freund nicht mitgebracht?«, wollte Karin Lohse wissen, die ein langes Kleid mit spitzengesäumtem Ausschnitt trug und trotz ihres Alters beneidenswert gut darin aussah, wie Anna fand.
»Lutz ist in Hamburg«, antwortete sie. »Verwandtschaftsbesuch.« Irgendeine goldene Hochzeit. Fette Torten, langweilige Videos früherer Feiern und hochnäsiger hanseatischer Kaufmannsadel. Anna graute beim Gedanken daran. Lutz war sauer, dass sie ihn nicht begleitete – die Hamburger Verwandtschaft erwartete, dass er ihnen seine Freundin vorstellte.
»Wie lange seid ihr jetzt zusammen?«, fragte Karin.
»Vier Jahre. Und jetzt willst du sicher wissen, wann wir heiraten?«
Karin lachte und schüttelte ihre braunen Locken. »Tut das erst, wenn ihr euch wirklich sicher seid.«
Anna musste daran denken, wie sie Lutz kennen gelernt hatte. Eigentlich war sie scharf auf Sven Arnold gewesen, der halbtags in Vaters Landtagsbüro arbeitete. Sven hatte sie eines Sonntags zur Probe seiner Band mitgenommen – laute Gitarrenmusik nach dem Vorbild von Oasis, die damals sehr populär gewesen waren. Die Jungs träumten davon, berühmt zu werden. Zu Annas Enttäuschung hatte Sven sie jedoch wie Luft behandelt. Jede Viertelnote seiner Songs schien ihm wichtiger zu sein.
Lutz, der damals noch studierte, hatte den Bass gespielt. Während der Probe war es zum Bruch gekommen – Sven hatte Lutz vorgeworfen, nicht mit dem nötigen Ehrgeiz zu üben. Anna fuhr mit Lutz vorzeitig nach Hause und aus dem gemeinsamen Frusterlebnis hatte sich eine Freundschaft entwickelt.
Nun fragte sich Anna, ob ihre Leidenschaft erst in letzter Zeit erloschen war oder das Feuer von Beginn an nicht heftig genug gelodert hatte. Vielleicht war ein verkorkster Nachmittag im Proberaum kein gutes Omen für eine Liebesbeziehung.
Sie schnappte sich ein Glas Prosecco vom Büfett und schlenderte hinüber zu Daniel.
Der Junge trug einen cremefarbenen
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