617 Grad Celsius
leitete die Kriminalgruppe eins, zu der auch das Kommissariat für Tötungsdelikte gehörte. Er trug einen perfekt sitzenden rehbraunen Anzug mit hellen Nadelstreifen. Sein Alter taxierte Anna auf Mitte vierzig. Ein paar Lachfältchen, kaum graue Haare. Der Flurfunk handelte den Langen bereits als künftigen Kripochef.
Der Kaffee war durchgelaufen. Engel trug die kleine Tasse zu seinem Schreibtisch. Anna korrigierte ihre Schätzung nach oben. Mindestens eins fünfundneunzig.
»Kollegin Bach hat einen Termin vor Gericht«, sagte er. »Deshalb fällt mir die Aufgabe zu, es Ihnen mitzuteilen.«
Anna wandte ein: »Kurt Essig lügt. Es gab keine Nötigung. Ich habe nie …«
Der Kriminalrat hob die Hand. »Als Beschuldigte brauchen Sie keine Aussage zu machen. Machen Sie am besten von diesem Recht Gebrauch und nehmen Sie sich einen guten Anwalt. Ich kann Ihnen einen empfehlen, der darauf spezialisiert ist, Kollegen zu verteidigen. Ihr Vater kennt ihn sicher auch.«
»Wie geht es jetzt weiter?«
Engel stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Es wird zunächst ein Vorermittlungsverfahren eingeleitet. Rechnen Sie damit, dass sich das über etliche Tage hinziehen wird. Und beruhigen Sie sich, Anna. In der Regel wird nicht so heiß gegessen, wie es zunächst scheint.«
Er lächelte. Sie fühlte, wie sich ihr Innerstes zusammenschnürte. »Werde ich vom Dienst suspendiert?«
»Darüber wurde bis jetzt noch nicht entschieden.« Engel löffelte Zucker in seine Tasse, rührte um, dann hob er seinen Blick und fügte hinzu: »Normalerweise ist das erst einmal kein Thema, denn wir warten zunächst ab, ob der Staatsanwalt am Ende der Vorermittlung überhaupt ein Strafverfahren eröffnen will. Normalerweise dauert das Wochen oder Monate. Aber an diesem Fall ist leider gar nichts normal. Öffentliches Interesse, Sie verstehen? Machen Sie sich also auf alles gefasst.«
Anna fiel es schwer, Engel zu folgen. In ihrem Kopf hallten seine Worte nach: Vorermittlung, Strafverfahren, öffentliches Interesse.
Drei Jahre Knast für Nötigung, ein Teil davon zur Bewährung. Was würde danach kommen? Aushilfsjobs im privaten Sicherheitsgewerbe. Nachtwächterin, Kurierfahrerin. Wenn überhaupt.
Der Lange fragte: »Wirklich keinen Espresso? Sie sehen aus, als könnten Sie eine Stärkung vertragen.«
»Nein, danke.« Anna erhob sich und steuerte die Tür an. Ihr wurde schwummrig. Sie verfluchte die Tabletten, die sie abends nahm. Den Stress und die Furcht um ihren Vater.
»Warten Sie, Frau Winkler!«
Sie war froh, sich wieder setzen zu können.
Engel beugte sich vor: »Ela Bach sagte mir, dass Sie den Fall Daniel Lohse wieder aufrollen.«
»Das hat mit der Aussage von Kurt Essig nichts zu tun.«
»Tatsächlich?«
»Es geht auch um die Aussage der Mutter, ihr Sohn habe sich von Clemens Odenthal bedroht gefühlt. Da ist nichts dran, wie ich inzwischen erfahren habe. Karin Lohse hat mir nach Bosnien geschrieben, dass Daniel den Namen Odenthals gar nicht erwähnt habe.«
»Was haben Sie vor?«
»Aktenstudium, erneute Befragungen im Bekanntenkreis des Opfers, fallanalytischer Abgleich mit ähnlich gelagerten Straftaten im Bundesgebiet.«
»Eins müssen Sie mir aber versprechen, Anna.«
»Was?«
»Lassen Sie Kurt Essig in Ruhe. Nehmen Sie auf keinen Fall Kontakt zu ihm auf. Das würde sich gar nicht gut machen im Vorermittlungsverfahren.«
»Klar.«
Als Anna an der Tür war, sagte Engel: »Sie haben übrigens gute Arbeit auf dem Balkan geleistet.«
»Danke.«
»Und es gibt schon wieder eine Anfrage. Sie könnten bereits am Montag hinunterfliegen.«
»Nach Bosnien?«
»Vielleicht bietet Ihnen die EU-Mission diesmal einen Einsatzort, der nicht so abgelegen ist wie Čapljina. Es wäre die sichere Chance, eine Suspendierung zu umgehen, Frau Winkler. Überlegen Sie es sich.«
Er lächelte, als stünde er auf Annas Seite.
Draußen glaubte sie für einen Moment, der Boden schwanke unter ihr.
Dann stieg sie in den Paternoster. Während die Holzkabine nach oben ratterte, fielen Anna die einsamen Abende in ihrem möblierten Apartment in Bosnien ein. Am Haus war eine Satellitenschüssel montiert gewesen, mit der sie deutsches Fernsehen empfangen konnte – nie hatte sie so viele Stunden vor der Glotze zugebracht wie in dem Jahr, das hinter ihr lag.
Nach einer Wiederholung sehnte sie sich eigentlich nicht. In ihrem Dienstzimmer wählte sie die Handynummer ihres Vaters. Nach dem vierten Klingeln
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