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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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geräumig und im Design der Sechzigerjahre eingerichtet: dunkles Holz, klare Linien. Die Sekretärin, eine mittelalte, aufgebrezelte Blondine, wirkte wie ein Wachhund hinter Telefonanlage und Computermonitor. Anna schwenkte den Dienstausweis.
    Die Blonde nahm den Hörer ab und kündigte ihrem Boss den Besuch an.
    Das Chefbüro lag im Dämmerlicht. Nur die Schreibtischlampe brannte, ein schweres, verchromtes Teil im Art-déco-Stil. Es ließ das weiße Hemd des Mannes strahlen, der weit zurückgelehnt in seinem Stuhl saß, die Füße auf dem papierübersäten Schreibtisch ruhend, in der Hand einen Bleistift, mit dem er unablässig spielte. Alex Vogel war ein unscheinbarer, dicklicher Kerl, bei weitem nicht der charismatische Orson-Welles-Typ aus Citizen Kane, den Anna sich vorgestellt hatte.
    Er blieb sitzen, als sie das Büro betrat, und nahm nicht einmal seine Füße vom Schreibtisch.
    »Ich wusste, dass Sie mich besuchen würden, Frau Winkler.«
    Anna nahm auf dem lederbezogenen Besucherstuhl Platz. Ihr fiel die Aussicht auf: Das Fenster in Vogels Rücken zeigte die Königsallee in ihrer ganzen Pracht. Die Einkaufsgalerien und Edelboutiquen leuchteten, als sei der Aufschwung, den der Bundeskanzler jedes Jahr in der Silvesteransprache vorhersagte, in dieser Stadt Realität.
    »Im Winter ist es noch schöner«, erläuterte der Zeitungsmacher und griff in eine Schale mit Kirschen. »Wenn die Lichter in den Platanen aussehen wie Millionen kleiner Sterne.«
    Anna kam zur Sache: »Erst bitten Sie mich um ein Treffen zwecks gegenseitiger Befriedigung unserer professionellen Neugier. Dann fahren Sie mich frontal über den Haufen. Erklären Sie mir, wie das zusammenpasst, Herr Vogel!«
    Der Chefredakteur lächelte, dann spuckte er einen Kirschkern in weitem Bogen quer durch den Raum. Ein kurzes, klickendes Geräusch beim Aufprall auf dem Linoleum.
    Anna bemerkte: »Ich wusste gar nicht, dass Kirschen schon Saison haben.«
    »Eingeflogen. Ich esse praktisch nichts anderes als eingeflogenes Zeug.«
    Vogel kaute noch mehr Kirschen und spie Kerne.
    »Nichts in Ihrem Artikel ist bewiesen«, sagte Anna.
    »Wir haben, wohlgemerkt, keine Tatsachenbehauptungen aufgestellt.« Unter der Obstschale zog Vogel wie zum Beweis die heutige Ausgabe hervor. Er legte sie Anna hin, als habe sie den Blitz noch nie gesehen. »Sondern wir reden lediglich von einem, Zitat, ›unglaublichen Vorwurf und schrecklichen Verdacht‹.«
    »Journalistisch einwandfrei.«
    »Klar, der Aufmacher stammt ja auch vom Chef persönlich.«
    »Gratuliere.«
    »Nichts für ungut, Frau Winkler. Unser Informant hätte zur Konkurrenz gehen können. Wir waren gezwungen, die Geschichte zuerst zu bringen. Das sind wir unseren Lesern schuldig. Außerdem: Wenn Ihnen solche Fragen wehtun, dann haben Sie sicher etwas zu verbergen, stimmt’s?«
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Dass Sie den Fall Daniel Lohse neu aufrollen.«
    »Wir haben gestern damit begonnen.«
    »Das ging ja schnell.« Vogel nahm die Füße vom Tisch, beugte sich vor und ließ nervös den Bleistift tanzen. »Und was sagt Ihr Onkel dazu, Frau Winkler?«
    »Worauf zielen Sie ab, Herr Vogel?«
    »Kommen wir ins Geschäft, ja oder nein?«
    Anna überlegte: Vogel wollte Infos, bevor die Konkurrenz sie erhielt. Sie würde der Pressestelle ihrer Behörde ins Handwerk pfuschen. Über den Stand der Ermittlungen plaudern, obwohl es noch gar nichts zu vermelden gab.
    Aber der Kerl wusste etwas. Er hatte ihren Onkel erwähnt.
    »Ja«, antwortete Anna. »Wenn Sie aufhören, gegen mich zu schießen.«
    »Mal sehen.«
    »Wie war das nun mit der gegenseitigen Befriedigung der professionellen Neugier?«
    Vogels Blick senkte sich und Anna hatte den Eindruck, dass er ihr Äußeres taxierte. Dabei sagte er: »Die Sache begann 1976.«
    »Ich weiß.«
    »Die damalige Geschichte hat mir zum Durchbruch als Reporter verholfen. Wissen Sie auch, warum Uwe Strom Ihren Vater beauftragt hat, diesen Musiker einzuschüchtern?«
    »Ich kenne die Version, die Peter Uhlig verbreitet hat.«
    »Die Frage lautet, ob sie stimmt.«
    »Belege habe ich dafür nicht«, antwortete Anna.
    »Uhlig kam etwa vor zehn Jahren zu mir. Damals war ich noch einfacher Reporter und wir haben uns mehrfach getroffen. Für den Kunstfritzen sprach, dass er kein Geld verlangte. Und vage Gerüchte um Uwe Strom hat es immer gegeben. Jahrelang galt er als ewiger Junggeselle. Ich frage Sie: Das sagt doch alles, nicht wahr?«
    Anna schwieg.
    »Eine megagute Nummer, einfach

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