617 Grad Celsius
nach den Mondphasen aus. Die bevorstehende Mondfinsternis mache sie ganz kirre.
Der Gedanke, dass Kurt Essig sie gerade bei ihrem Kollegen Thilo Becker anschwärzte, ging Anna nicht aus dem Kopf.
Im Auto fragte Wegmann: »Hast du schon mit deinem Daddy gesprochen?«
»Ja.«
»Und was sagt er?«
»Für ihn ist Odenthal nach wie vor der Täter. Er hat ihn bearbeitet, um seinem Kumpel Lohse einen Gefallen zu tun, der darunter litt, dass der vermeintliche Mörder seines Sohns nicht gestehen wollte. Mein Vater sagt, er und Lohse hätten keine Gewalt angewandt, aber es kann schon sein, dass sie Odenthal ein wenig zu sehr eingeschüchtert haben.«
Bruno machte noch keine Anstalten loszufahren. Mit einem Stirnrunzeln fragte er: »Wie interpretierst du die Aussage dieses Buchverkäufers?«
»Warum soll mein Vater Daniel nicht besucht haben? Daniel war sein Patenkind. Er hat ihn unterstützt, als Daniel zu Hause rausflog. Er hat ein paar seiner Bilder gekauft und auch eines in Auftrag gegeben.«
»Könnte da Erpressung im Spiel gewesen sein?«
»Unsinn.«
»Und die alte Geschichte, von der dir die WDR-Reporterin erzählt hat?«
Anna verschränkte die Arme und wich dem Blick des Kollegen aus. »Mein Onkel ist offenbar schwul.«
»Unser Landesvater?«
»In grauer Vorzeit ist er Uhligs Freund nachgestiegen. Seit damals hat Uhlig den Ministerpräsidenten gehasst wie die Pest.«
»Und dein Vater hat wiederum den Kunstprofessor in den Neunzigerjahren angeschwärzt wegen angeblicher rechtsextremer Aktivitäten. Was wirklich dahintersteckte, kann man sich ja denken. Ein Denkzettel. Uhlig sollte zum Schweigen gebracht werden, stimmt’s?«
Anna hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Kann sein.«
»Vielleicht ist die Geschichte erneut hochgekocht.«
Anna blickte schweigend auf die Regentropfen, die an der Windschutzscheibe herabliefen. Ihr fröstelte.
Bruno sagte: »Vielleicht hatte Uwe Strom auch etwas mit Daniel und danach musste Daniel zum Schweigen gebracht werden, möglichst für immer?«
»Und du meinst, mein Vater hätte das erledigt?«
»Das hab ich nicht behauptet.«
Anna spürte, wie ihr eine Träne ins Auge schoss, und wischte sie verstohlen weg. Ihr war klar, dass ihr Vater im Auftrag seines Schwagers zweimal den Mann fürs Grobe gespielt hatte. Aber das war lange her. Dicke Kumpels waren er und Strom seit Jahren nicht mehr. Eigentlich schon seit Mutters Auszug.
»Lass bitte meinen Vater aus dem Spiel«, sagte sie.
Ihr Kollege ließ den Wagen an und rangierte ihn mit viel Gas und schleifender Kupplung aus der Lücke. Er antwortete: »Vielleicht solltest du dich ab jetzt besser aus der Ermittlung raushalten.«
Und es zulassen, dass sich Bullen wie Thilo Becker auf ihren herzkranken Vater stürzten? Anna schüttelte den Kopf und antwortete: »Dazu stecke ich zu tief drin.«
»Was meinte dieser Bücherjunge eigentlich mit der Zeitung? Hab ich was verpasst?«
»Nur aufgebauschter Blödsinn. Du kennst doch den Blitz. «
Als sie den Hofgarten passierten, schrillten Klingeltöne.
»Dein Handy«, stellte Bruno fest.
Anna fand es und nahm das Gespräch an. »Winkler.«
»Benedikt Engel«, meldete sich eine freundliche Baritonstimme. »Wir sollten miteinander reden.«
Jetzt ist es so weit, dachte sie.
»Wo sind Sie gerade?«, fragte der Kriminalrat.
»Schon unterwegs.«
»Gut. Ich erwarte Sie in meinem Büro.«
Ohne Gruß legte Engel auf.
»Wohin?«, fragte Bruno.
»Präsidium«, antwortete Anna.
Sie musste cool bleiben. Nicht heulen. Das große Mädchen sein, das sich nötigenfalls auch mit den hohen Tieren in der Politik anlegen würde.
47.
»Ela Bach hält sehr viel von Ihnen, Frau Winkler«, sagte der Einsneunzigmann, den jeder im Präsidium ›den Langen‹ nannte. Er kippte Wasser aus einem Filterbehälter in die stählerne Espressomaschine auf seinem Aktenschrank. »Auch einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Benedikt Engel drückte einen Knopf und der Apparat begann zu brummen und zu zischen.
Anna musste an eine frühere Bemerkung ihrer Chefin denken: Du weißt, dass dein Vater einen guten Draht zu ihm hat.
Der Kriminalrat sagte: »Vielleicht wundern Sie sich, dass unser bürokratischer Apparat so rasch auf die Sache anspringt. Aber immerhin stand es im Blitz und daran kommt keiner vorbei. Der Behördenleiter hat mich um fünf Uhr morgens geweckt und wollte wissen, wie wir reagieren sollen.«
Annas Handflächen wurden feucht. Sie schob es auf den überheizten Raum.
Benedikt Engel
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