617 Grad Celsius
Bundeskriminalamts eingegeben. Außer Straubing habe ich noch das hier bekommen.«
Bruno schloss Datenfenster und öffnete neue. Eine E-Mail-Botschaft, nur wenige Zeilen.
»Eine Geschichte in Reutlingen«, erklärte der Kollege. »Die brauchen etwas länger, bis sie mit Details rüberkommen. Der Fall ist ein knappes Jahr alt und sie wollten ihn schon als unerledigt in die Aktenhaltung geben. Eine Leiche in einem Waldstück, die kopfüber von einem Ast baumelte. Und wieder ist es ein junger Schwuler. Was hältst du davon?«
»Ein Genitalienbeißer in Süddeutschland.«
»Und damit hat er den entscheidenden Fehler begangen. Die Straubinger Kollegen konnten DNA-Spuren feststellen. Speichel des Täters in den Bisswunden.«
»Sagtest du ViCLAS, die Serientäterdatei? Du hast tatsächlich den ganzen Erhebungsbogen ausgefüllt? Wie viele Posten sind das, mehr als einhundert?«
»Genau 168. Tathergang, Vortatphase, Nachtatphase, Modus Operandi, sämtliches Täterverhalten, das nicht zur eigentlichen Tat notwendig wäre. Eine Menge Stoff, aber das gehört nun mal zur Fallanalyse.«
Anna nickte und rang sich ein Lächeln ab. Sie schätzte den Eifer des Kollegen und wollte ihn nicht verprellen. »Und sonst?«, fragte sie. »Gibt es etwas, das auch mit Daniel zu tun hat?«
Missmutig warf Bruno ihr einen Schnellhefter zu, den sie auffing.
»Was ist das?«, fragte Anna.
»Du erinnerst dich an Costa Tönissen?«
»Ein guter Freund von Daniel. Wenn ich mich richtig erinnere, gingen sie beide in Kaarst zur Schule.«
»Albert-Einstein-Gymnasium. Klingt nach Kaderschmiede für Genies. In dem Ordner findest du Costas Aussage. Auf der Fahrt kannst du dich schon mal einlesen. Der Junge erwartet uns in dem Buchladen, in dem er jobbt.«
Sie nahmen den rot lackierten VW Passat, den die Fahrwache für die Mordkommission Schützenstraße bereithielt. Bruno saß hinter dem Steuer.
Anna blätterte in den Unterlagen. Costa Tönissen, Jahrgang 1982.
»Ein so genannter Szenebuchladen«, bemerkte Bruno. »Rat mal, für welche Szene.«
Annas Gedanken schweiften ab und sie dachte an Kurt Essig, der gerade im Präsidium seine Aussage machte. Plötzlich kam es ihr vor, als sei jede Minute für sie nur geliehene Zeit.
Jeden Moment konnte das Kartenhaus ihrer Lüge zusammenbrechen. Auf Nötigung stand Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Wenn Beamte straffällig wurden, griffen die Richter besonders hart durch. Ab einer Strafe von einem Jahr verlor man die Stelle.
Anna versuchte, sich auf die Akte zu konzentrieren. Sie erinnerte sich jetzt auch an die Vernehmung des Burschen. Er war es gewesen, der den Namen Odenthal ins Spiel gebracht hatte. Als Mörder schied Costa aus. Sein Alibi war überprüft worden – wasserdicht.
Vor der Einfahrt zum Rheinufertunnel hielten sie vor einer roten Ampel. Es begann zu regnen. Die Wischblätter verschmierten den Schmutzfilm auf der Scheibe. Anna knipste das Lämpchen über dem Rückspiegel an und las weiter.
Ihr Kollege fragte: »Du glaubst also nicht daran, dass der Beißer von Straubing unser Mann sein könnte?«
»Entschuldige, Bruno, ich finde es großartig, dass du dich für den Fall so engagierst. Keiner sonst außer uns ist der Überzeugung, dass der Fall Daniel noch ungeklärt sein könnte.«
»Du hast keine Ahnung, wie sehr mich das beschäftigt. Mensch, Anna! Wenn an Odenthals Geständnis etwas nicht stimmt, bin ich mitschuldig, dass der wahre Mörder noch frei rumläuft und vielleicht wieder aktiv geworden ist. Die Vorstellung, es könnte dieser Beißer sein, ist einfach grauenhaft.«
Die Ampel sprang auf Grün, Bruno gab Gas. Der Passat tauchte in den Tunnel und beschleunigte.
Anna legte die Akte beiseite und sagte: »Ich versteh dich besser, als du denkst.«
46.
Es war ein kleiner Laden in einer Nebenstraße der Derendorfer Fußgängerzone. Sie trafen Tönissen vor der Tür, als er gerade im Begriff stand aufzuschließen. Klanghölzer bimmelten beim Öffnen. Drinnen roch es nach Staub und frisch verlegtem Teppichboden.
Anna vermisste die üblichen Wühltische und Bestsellerregale. Es gab Reiseführer, Kochbücher, Esoterikkram und eine große Abteilung mit Literatur für Schwule und Lesben, dazu einschlägige Poster und Kalender. Sie fragte sich, wie sich ein solcher Laden halten konnte. Düsseldorfs Homoszene war mit der Kölns oder Berlins nicht zu vergleichen.
Costa Tönissen war ein süßer Junge, der Bruno umtänzelte und Anna kaum eines Blicks würdigte. Ihr fiel auf, dass
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