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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Ich bekam nichts zu essen und konnte also noch weniger arbeiten als vorher. So habe ich es bis zu zweihundert Hungertagen gebracht, aber verdienen konnte ich mir nichts, obgleich ich als Fournierschneider bei vollem Pensum täglich einen Kreuzer erhalten hätte.“
    Es lag in der Art und Weise seiner Bemerkungen etwas, was still hinzunehmen sich der Direktor gezwungen sah. Er erkundigte sich noch:
    „Hast du Verwandte?“
    „Keine Seele.“
    „Oder Freunde?“
    „Einen alten Paten; der aber ist der Freund dessen, der mich ins Unglück gestürzt hat.“
    „Du hast also nur für dich allein zu sorgen; das ist eine große Erleichterung. Übrigens will ich dir deine mehr als offene Auseinandersetzung verzeihen und dir zum Beweis, daß es doch Menschen gibt, welche deinen Untergang nicht wollen, zehn Gulden aus meiner Kasse gutschreiben. Man wird sie dir morgen früh bei deiner Entlassung auszahlen.“
    Das hatte der Buchbinder von dem sonst so strengen Mann nicht erwartet. Die Röte der Freude ging über sein Gesicht, und er antwortete:
    „Gott vergelte es Ihnen, Herr Regierungsrat! Nicht das Geld allein ist es, was er Ihnen vergelten möge, sondern vor allen Dingen die Hoffnung, welche Sie damit in mir erwecken. Vielleicht stößt man mich nicht überall hinaus. Vielleicht finde ich Arbeit und Vertrauen, und dann wird man erkennen, daß ich nicht der Spitzbube bin, für den man mich bis jetzt gehalten hat.“
    „Ich will es Ihnen wünschen, Heilmann. Verzagen Sie nicht; werfen Sie die Verbitterung von sich fort. Treten Sie Ihren Mitmenschen mit einem offenen, freundlichen Gesicht entgegen, und man wird dann nicht hart und rücksichtslos mit Ihnen sein können. Ich entlasse Sie hiermit. Gehen Sie morgen früh mit Gott hier fort, und wenn ich Ihnen im Leben wieder begegne, so würde ich mich freuen, Sie als braven, selbständigen Meister zusehen.“
    Er reichte ihm die Hand.
    „Herr Regierungsrat“, sagte der Buchbinder mit bebender Stimme, „hätte bei meiner Einlieferung hier nur ein einziger Beamter so ein teilnehmendes Wort zu mir gesagt, ich wäre nicht zwölfmal bestraft worden!“
    Er ging und der nächste trat ein. So expedierte der Direktor einen nach dem anderen, bis endlich der letzte ihn verlassen hatte. Nun war auch er frei.
    Eben als er seine Privatwohnung betrat, wurde mit der Glocke das Zeichen gegeben, daß die Gefangenen ihre Strohsäcke aufzusuchen hätten.
    Er hatte Besuch. Sein Neffe befand sich bei ihm und hatte mit den Familienmitgliedern mit dem Souper auf ihn gewartet. Der brave Beamte war während des Essens ungewöhnlich schweigsam. Als man ihn darauf aufmerksam machte, sagte er:
    „Ich habe heute Veranlassung zum Nachdenken erhalten. Morgen geht ein Gefangener fort, den ich bisher für einen frechen Leugner gehalten habe, weil er stets behauptete, unschuldig zu sein, und nun, in der letzten Stunde, bin ich in meinem Urteil irre geworden.“
    „Ist es denn überhaupt möglich, daß jemand unschuldig verurteilt werden kann?“ fragte seine Frau.
    „Ich muß zugeben, daß solche Fälle leider vorkommen. Der Indizienbeweis läßt stets die Möglichkeit zu, daß der Richter sich irrt.“
    Sein Neffe trug die Uniform eines Oberlieutenants. Er hatte ein intelligentes Gesicht und ganz das Aussehen eines lebenslustigen, schneidigen Offiziers. Er schien sich für dieses Thema zu interessieren, denn er fiel jetzt mit einer wahrnehmbaren Wärme ein:
    „Indizienbeweis, lieber Onkel? Oh, nicht bloß das! Der Richter kann sich sogar selbst dann irren, wenn der Angeklagte sich zu der Tat bekennt!“
    „Wohl kaum!“
    „O doch!“
    „Es wird doch kein Mensch ein Verbrechen eingestehen, welches er nicht begangen hat!“
    „Warum nicht?“
    „Welche Gründe sollten ihn leiten?“
    „Zunächst Selbsttäuschung. Es ist vorgekommen, daß einer glaubte, einen anderen erschossen zu haben. Er wurde auf sein Geständnis hin verurteilt, und doch stellte es sich später heraus, daß die Kugel nicht aus dem Lauf seines Gewehres gekommen war.“
    „Das klingt sehr romantisch.“
    „Ist aber trotzdem geschehen.“
    „Und nun weiter?“
    „Weiter kann sich ein Unschuldiger zu einer Tat bekennen, um sich für den Schuldigen aufzuopfern.“
    „Dann ist der Schuldige entweder ein – Feigling oder gar ein Schurke.“
    Über die Stirn des Lieutenants flog eine feine, plötzliche Röte. Er räusperte sich und sagte:
    „Nein. Es ist entweder unendlich feig oder bodenlos schlecht, einem andern aufbürden

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