62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
einmal gehen, sie zu holen. Ein Wunder, wenn wäre etwas dabei, was Sie suchen.“
„Ja, gehen Sie; holen Sie sie!“
Der Alte ging. Es war ihm, als ob seine Glieder sich verjüngt hätten. Er flog förmlich die Treppe empor und trat mit einer Schnelligkeit und Elastizität bei Judith ein, daß diese erschrocken von ihrem Sitz aufsprang.
„Was gibt's, Vater?“ sagte sie. „Du erschreckst mich!“
„Er ist ein Graf!“ stieß er atemlos hervor.
„Ein Graf?“ fragte sie erstaunt. „Wer?“
„Robert von Holmström!“
„Ich verstehe dich nicht!“
„Der Dichter!“
Sie sah ihn noch immer verständnislos an.
„Robert Bertram ein Graf?“ fragte sie.
„Ja, ein schwedischer Graf.“
„Wer hat das gesagt?“
„Der Verwalter des Grafen.“
„Wo ist er?“
„Unten, in meiner Stube.“
„Was will er bei uns?“
„Die Kette, welche ich gegeben habe dir zum Aufheben.“
„Hat er sie verlangt?“
„Nein.“
„Aber du hast ihm gesagt, daß wir sie haben?“
„Noch nicht, obgleich er versprochen hat eine halbe Million schwedische Kronentaler.“
Ihre Augen leuchteten auf, und ihre Wangen röteten sich.
„Erzähle!“ gebot sie ihm.
Er berichtete ihr seine ganze Unterredung mit dem vermeintlichen Schweden. Als er geendet hatte, preßte sie die Hände fest auf den hochgehenden Busen, stieß einen lauten Jubelruf aus und hauchte dann:
„Ein Graf!“
„Ja, ein Graf.“
„Robert von Holmström!“
„Robert von Holmström, welcher einst ausgehauen wird in Marmor mit goldenen Buchstaben.“
Da trat sie zum Vater heran und raunte ihm zu:
„Aber merke dir, wir müssen klug sein.“
Er spreizte alle zehn Finger aus, nickte verständnisinnig mit dem Kopf und stimmte bei:
„Klug, sehr klug!“
„Wir geben die Kette nicht her! Wir behalten sie!“
„Glaubst du, daß ein Graf Holmström die Tochter eines jüdischen Händlers heiraten würde?“
„Nein. Aber ich muß, ich muß ihn haben!“
„Ja. Er muß mein Eidam werden!“
„Darum darf er nicht eher erfahren, was er ist, als bis er dein Eidam geworden ist.“
„Aber –“
Er dehnte das Wort sehr lang hinaus und machte dabei eine sehr zweifelhafte Gebärde und rief: „Wenn nur die Kette die richtige ist? Es ist doch besser, wir zeigen sie ihm.“
„Das ist gefährlich!“
„Warum?“
„Er wird sie behalten wollen.“
„Er bekommt sie nicht.“
„Aber wenn er zur Behörde geht?“
„Die Kette ist unser. Wir haben sie bezahlt.“
„Also willst du sie ihm zeigen?“
„Wenn du denkst, daß es besser ist, Vaterleben.“
„Ja, zeigen wir sie ihm.“
„Aber ich muß selbst dabei sein. Aus der Hand gebe ich sie nicht. Anrühren darf er sie nicht.“
„So nimm sie heraus und komm mit herunter, Tochterleben.“
Sie öffnete ein Etui, in welchem sich die Kette befand, steckte diese zu sich und folgte dem Vater hinab, wo der Baron sich bisher mit der Alten gelangweilt hatte.
Er wußte, daß Judith das Kleinod bringen würde. Er fühlte sich als Sieger, ließ es sich aber nicht bemerken.
„Hier ist Judith, meine Tochter!“ stellt der Alte sie vor.
Der Baron verbeugte sich höflich und fragte:
„Haben Sie nach Kleinodien gesucht?“
„Ja, Herr Ankerkron.“
„Etwas gefunden?“
„Eine Kette.“
„Ah! Sollte ich bei Ihnen vielleicht glücklich sein?“
„Sie hat auch ein Herz und – darauf stehen die Buchstaben, von denen Sie sprachen.“
„Zeigen Sie! Zeigen Sie!“
Jetzt trat Judith heran und sagte:
„Herr Ankerkron, Sie sollen die Kette sehen, aber unter einer Bedingung.“
„Und diese ist?“
„Ich zeige sie Ihnen, aber Sie rühren sie nicht an!“
„Warum?“
„Sie ist unser Eigentum!“
„Eigentlich nicht.“
„Ah! Warum?“
„Gestohlenes Gut!“
„Gut, so sehen Sie sie nicht!“
Sie steckte die Kette, welche sie bereits aus der Tasche genommen hatte, wieder zu sich. Der Baron sah ein, daß sein Verhalten ein falsches gewesen sei. Er sagte begütigend:
„Bitte, nicht so cholerisch, Fräulein! Sie haben diese Kette jedenfalls gekauft und bezahlt!“
„Das versteht sich!“
„Nun, dann gehört sie unbestreitbar Ihnen. Aber ich bitte sehr, sie sehen zu dürfen.“
„Aber nicht anrühren!“
„Glauben Sie, daß ich Sie Ihnen stehle?“
„Ich glaube nichts, weder ja noch nein, ich bin nur vorsichtig. Geben Sie mir Ihr Wort, sie nicht anzugreifen. Ihr Ehrenwort natürlich!“
„Versteht sich!“
„Nun, da sehen Sie!“
Sie legte die Kette auf den Tisch,
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