63 - Der verlorene Sohn 04 - Sklaven des Goldes
sie griff danach und öffnete es, um zu lesen. Noch viel weniger aber hatte sie acht auf das, was hinter ihr vorging. Sie bemerkte nicht, daß er hastig den Überrock ablegte, daß das falsche Haar, der Bart und auch die Narbe aus seinem Gesicht verschwand.
Der Brief enthielt nur folgende Zeilen:
„Mein lieber, angebeteter Sonnenstrahl, Du fragst nach mir; du willst mich sehen? Willst Du Dich nicht umdrehen zu
Deinem Gustav!“
Im ersten Augenblick wußte sie nicht, was sie denken, was das bedeuten solle. Nicht infolge dieser Zeilen, sondern mehr instinktiv machte sie eine Wendung zurück und –
„Gustav!“ schrie sie auf, laut, überlaut, wie man schreien würde, wenn man plötzlich ein Gespenst, einen Geist erblickt.
Ihr Mund blieb geöffnet; ihre Augen starrten groß, unnatürlich groß auf ihn, und ihre erhobenen Arme blieben ausgestreckt, als ob sie alle Macht der Bewegung verloren habe.
„Alma, meine Alma!“ antwortete er.
Sie blieb stumm und unbeweglich.
„Alma, um Gottes willen! Was ist mit dir!“
Er trat den einen Schritt auf sie zu und legte den Arm um ihre Taille. Bei dieser Berührung zuckte sie zusammen. Aus ihrem Mund tönte ein zweiter, unartikulierter Schrei. Sie zuckte zusammen; ihre Arme sanken nieder; ihr Mund schloß sich, und ihre Wimpern legten sich auf die Augen.
Die Erstarrung war vorüber. Sie brach so schnell zusammen, daß er kaum Zeit fand, sie festzuhalten.
Er trug sie nach dem Sofa und öffnete ihr das dunkle Kleid, damit ihre Brust zu atmen vermöge. Er tauchte sein Taschentuch in Wasser und kühlte ihr Stirn und Schläfe.
Dabei nannte er sie bei den süßen Worten, welche ihm die Angst der Liebe eingab. Endlich, endlich öffnete sie die langen, seidenen Wimpern. Ein beinahe irrer, zweifelsvoller Blick stahl sich hervor, und dann hauchte sie kaum hörbar:
„Gustav!“
„Meine Alma!“
„Ist's wahr? Du bist's, du?“
„Ja, ich bin es, mein Engel, meine Seele, mein Leben!“
„Ich täusche mich nicht?“
„Nein.“
„Es ist nicht das Bild, welches der Fürst mir zeigte?“
„Nein. Bitte, fühle mich an!“
Er ergriff ihre Alabasterhändchen und drückte sie an seine Lippen, an seine Wangen. Ihrer Brust entrang sich ein tiefer, schwerer Atemzug; sie hauchte:
„Du mein lieber, lieber Gott, ich danke dir!“
Er nahm sie in seine Arme und legte ihr liebes Köpfchen an sein Herz.
„Fast wäre es zuviel gewesen“, klagte er.
„Ja. Fast hätte mich der freudige Schreck getötet!“
„Nun aber ist's doch vorbei? Nicht? Bitte, bitte!“
Seine Stimme hatte jenen einzigen, unbeschreiblichen Ton angenommen, dessen die menschliche Sprache nur im Augenblick des Entzückens, des größten Glücks, der höchsten Liebe fähig ist. Sie lauschte diesem Ton. Sie bemerkte nicht, daß er ihr Kleid geöffnet hatte, und daß sein Auge einzudringen vermochte in ein Heiligtum, welches noch von keinem Blick entweiht worden war. Sie antwortete:
„Ja, nun ist's vorbei. Ich werde nicht vor Freude sterben.“
„Nein, leben sollst du, leben! Glücklich sollst du sein nach diesen langen Jahren der Trauer und des Unglücks.“
Er küßte sie auf den Mund, und sie erwiderte seinen Kuß.
„Das ist das erste, erste Mal“, flüsterte sie.
„Daß du mich küssest?“
„Ja – ich meine, nicht als Bruder.“
„Und doch hast du mich bereits auch anders geküßt.“
„Dich? Und wo war das?“
„Bei dir, in deinem Zimmer.“
Sie blickte ihn mit großen Augen an und sagte:
„Ja, der Fürst! Wo ist er hin?“
Jetzt bemerkte sie das geöffnete Kleid, und unter einem tiefen Erglühen verhüllte sie sich wieder.
„Willst du ihn sehen?“
„Ja“, antwortete sie. „Er darf uns nicht überraschen.“
„So meinst du, er habe mich zu dir gebracht?“
„Wie sonst?“
„Nun, paß auf!“
Er nahm seine Arme von ihr und drehte sich ab. Dann hob er die weggeworfenen Gegenstände von der Diele auf, legte sie an und drehte sich um:
„Hier ist er, gnädiges Fräulein!“
Er sagte dies auch mit anderer, mit derjenigen Stimme, in welcher der Fürst stets gesprochen hatte.
„Durchlaucht! Gustav! Du bist es? Du bist beides?“
„Ja, mein Leben.“
„Du konntest so lange, so lange Zeit hier in der Residenz sein, ohne daß du dich mir zu erkennen gabst?“
Er legte die Verhüllung schnell wieder ab, schlang die Arme um sie, zog sie mit sich auf den Sitz nieder und sagte:
„Bist du mir vielleicht bös darüber?“
Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn
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