64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
traurig den Kopf und sagte:
„Wer weiß, wann ich meinen Pfad wieder einmal auf freie Erde zu setzen vermag. Bitte, erlauben Sie mir, diesen Weg gehen zu dürfen, anstatt zu fahren!“
„Hm! Darf ich Sie an Ihr Ehrenwort erinnern?“
„Keine Sorge! Ich halte es. Sie haben nichts Derartiges zu befürchten.“
„Ich vertraue Ihnen. Gehen wir also.“
Als sie das Gerichtsgebäude im Rücken hatten, bot der Assessor dem Gefangenen eine Zigarre an, welche dieser auch akzeptierte und in Brand steckte.
Der alte Hauptmann Kreller empfing, als sie das Patrizierhaus der Scharfenbergs betraten, seinen jungen Herrn mit Tränen in den Augen.
„Weine nicht“, sagte der Leutnant. „Unser ganzes Leben ist ja keine Träne wert. Bringe Licht herauf, Wein und Zigarren!“
Als das Licht das Wohnzimmer Scharfenbergs erhellte, füllte er die Gläser, präsentierte die Zigarren und sagte:
„Bitte, verschmähen Sie es nicht! Es ist das letztemal, daß ich jemandem etwas anbieten darf.“
Sie wollten ihn nicht kränken und erfüllten also seine Bitte. Dann fuhr er fort:
„Geben Sie mir einige Minuten Zeit! Ich werde hier an meinem Schreibtische einige Zeilen schreiben, die ich Ihnen dann zur Prüfung vorlege.“
Er setzte sich hin, nahm Papier und Feder zur Hand und begann zu schreiben. Das Geräusch, welches die Feder auf dem Papier hervorbrachte, war das einzige, was gehört wurde. Er schrieb nur einige Zeilen; dann schob er das Papier von sich ab, öffnete ein Schubfach und nahm ein Miniaturportrait aus demselben. Er betrachtete es lange, lange Zeit. Dann sagte er:
„Das war meine Mutter! Oh, Mutter, meine Mutter!“
Die Tränen rannen ihm über die Wangen; er trocknete sie, schob das Portrait in der Gegend des Herzens unter die Weste und gab dann den beiden die geschriebenen Zeilen hin.
„Bitte, meine Herren! Dies ist es, was ich hier noch schreiben wollte.“
Sie blickten beide zugleich auf das Papier und lasen:
„Ich bekenne meine Schuld und bereue sie. Vater und Oheim mögen mir verzeihen! Gott sei mir gnädig! Fluch aber dem Baron Franz von Helfenstein! Er war der Teufel, der mich in die Hölle des Spiels entführte. Ich war zu schwach zum Widerstehen. Gute Nacht!“
Seine Hand zuckte in das Schubfach, aus welchem er das Bild genommen hatte – ein stählernes Glänzen – ein dünnes, gar nicht sehr lautes Krachen – den kleinen Revolver in der Rechten, legte er den Kopf nach hinten. Mitten auf seiner Stirn befand sich ein kleines, kaum erbsengroßes Loch. Er war – tot!
Die beiden Anwesenden hatten keine Bewegung gemacht; sie blickten einander nur kurz und verständnisvoll an. Dann ergriff der Staatsanwalt die Hand des Leutnants, lauschte eine Minute und sagte:
„Vorüber!“
„Ich ahnte es“, meinte der Assessor.
„Konnten wir es hindern?“
„Es ging zu schnell.“
„Und war das allerbeste!“
„Jetzt kann sein Name möglichst geschont werden.“
Sie hatten nicht das Rollen eines Wagens gehört. Auf der Treppe wurden Schritte laut. Die Tür öffnete sich, und herein trat der alte Major, gefolgt von Joseph und Kreller.
„Guten Abend, meine Herren!“ sagte der Alte. „Sie sind wohl auch da des amerikanischen Duells wegen? Es darf nicht stattfinden. Warum soll der Stamm der Scharfenberger erlöschen? Was haben Sie da? Zeigen Sie das Papier!“
Er nahm es aus der Hand des Assessors und las. Als er fertig war, blickte er sie verständnislos an, sah wieder auf die Zeilen und wiederholte:
„Gott sei mir gnädig! Gute Nacht!“
Erst jetzt schien er den Sohn zu erblicken. Er trat zu ihm, ergriff seine Hand und beugte sich nieder zu seinen Lippen, um sie zu küssen. Kaum aber hatte sein Mund denjenigen des Sohnes berührt, so fuhr er empor, heftete den tödlich erschrockenen Blick auf das Angesicht des Sohnes, berührte mit den Fingern das Loch in der Stirn und sank dann langsam, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Boden nieder. Der Schlag hatte ihn getötet.
Die beiden Diener erhoben laute Klagen. Die beiden Beamten aber entfernten sich. Sie konnten hier nichts tun. Unten auf der Straße sagte der Staatsanwalt:
„Zwei Stammbäume ersterben – die Scharfenbergs und die Helfensteiner verschwinden.“
„Die Scharfenbergs ja; aber vielleicht besitzt der Stamm der Helfensteiner noch eine verborgene Knospe, die neue Zweige und Blüten treibt!“
SECHSTES KAPITEL
In der Maske des Amerikaners
Ganz droben im wilden Gebirge, nahe an der Grenze, stand auf einer kleinen
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