66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
außerordentlicher Beweglichkeit. Er trug schwarze Hosen, schwarzen Frack, schwarze Weste, einen schwarzen, sehr breitkrempigen Künstlerhut, schwarze Glacehandschuhe, einen schwarzseidenen Regenschirm und einen schwarzen, ebenholzenen Spazierstock. Auf der langen, schmalen Nase saß ein Klemmer, in schwarzes Horn gefaßt. Die Stiefel waren von Lackleder gefertigt, und auf der Schleife seiner Halsbinde glänzte ein ziemlich großer, wertvoller Diamant.
Als die Dame ihn erblickte, blieb sie stehen.
„Guten Morgen, mein Herr!“ grüßte sie.
„Guten Morken, buona mattina, Signora“, antwortete er.
„Es geht sich sehr langsam hier herauf.“
„Sehr! Largo, largo, assai, largo di molto!“
„Sind Sie hier bekannt?“
„Bekannt? Oh, ich sein begannt! Ich gennen jeder Weg und jeder Baum.“
„Hat man noch weit in die Talmühle?“
„In die Talmühlen? Gar nix weit, gar nix. Nok ein halber Stund.“
„Und immer diesen Weg?“
„Immer, semper. Ich wohnen dort.“
„Ah, das ist schön! Wie wohnt es sich dort?“
„Ausgeseichnet, sehr vortefflik, eccellente, egregio, perfetto – ßehr, ßehr!“
„Ich wohne auch dort.“
„Auk? Hab nix gehabt die Ehr, ßu ßehen Signora.“
„Ich ziehe erst jetzt ein. Mein Name ist Franza von Stauffen. Mein Vater ist mit der Schwester Elisa bereits nach der Mühle. Ich aber habe, als wir die Bahn verließen, diesen romantischen Waldweg eingeschlagen. Ich bin nämlich Dichterin.“
„Dickterin? Eine Poeta? Eine Verseggiatora? Ssehr schön, ßehr schön! Vortrefflick. Ich erlaube mir, mich vorßustellen. Ich bin Signor Rialti, Konzertmeister.“
Dabei nahm er den Regenschirm wie eine Violine an das Kinn und strich mit dem Spazierstocke wie mit dem Violinbogen darüber hinweg.
„Sehr angenehm, Signor! Wir sind also geistesverwandt. Gehen Sie nach der Mühle?“
„Ja, ßehr, ßehr grade!“
„So darf ich mich Ihnen wohl anschließen?“
„Gern, ßehr gern, molto gern, Signora. Ich sein ganz froh, ßu haben Ihrer Gesellschaft!“
Er fuhr dabei mit dem Stock über den Regenschirm, als ob er einen lustigen Läufer geige und schloß daran einen Triller, bei welchem alle Finger der linken Hand zappelten.
Die beiden gingen eine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Sie beobachteten und taxierten einander mit verstohlenen Seitenblicken, bis sie auf der Höhe ankamen, wo der Weg sich wieder abwärts senkte.
Da, an dieser Stelle war ein Leichenbrett an einem Baum befestigt.
In vielen, besonders katholischen Gegenden ist es nämlich Sitte, an Gräbern und an Stellen, wo jemand verunglückt ist, ein langes, schmales Brett anzubringen, auf welchem die nötigen, oft aber auch unnötigen Bemerkungen angebracht sind, meist Verse von sehr zweifelhaftem Wert. Da der Tischler, welcher das Brett hobelt und bemalt, meist auch der Dichter der Reime ist, so darf man an diese letzteren keine künstlerischen Ansprüche erheben. Oft kommt es da vor, daß ein solches Gedankenbrett einen ganz entgegengesetzten Eindruck als den beabsichtigten ernsten macht.
So war es auch hier. Auf dem Brette war nämlich ein Baum gemalt, welcher auf einem Menschen lag, und darunter stand:
„Beglückt und ohne Sorgen
Ging ich am frühen Morgen
Auf meine Arbeit aus.
Da traf mich eine Eiche,
Und ach, als eine Leiche
Kam Abends ich betrübt nach Haus.“
Die beiden Wanderer blieben stehen und lasen die eigentümlichen Reime.
„Wie gefällt Ihnen das Gedicht?“ fragte die Dame.
„Es ist kut, ßehr kut, ßehr!“
„Ja. Der Dichter hat seine Sache gut gemacht. Es kommen darin vor Glück und Sorgen, eine Eiche, eine Leiche, der Morgen und auch der Abend. Das ist genug für diese wenigen Zeilen. Der Dichter hat einen beneidenswerten Gedankenreichtum besessen. Er ist im Wald zu Hause; das hört man gleich. Der Wald begeistert zur Poesie. Hören Sie zum Beispiel, was ist auf uns beide jetzt dichte!“
Sie schlug ihr Buch auf, zog die Feder hinter dem Ohre hervor, tauchte sie in den Regenschirmknopf, schrieb einige Zeilen und las dann vor:
„Im Wald gehn wir spazieren
Und tun uns amüsieren,
Ein Herrchen tut mich führen;
Zu zweit – gehn wir auf vieren.“
Sie blickte ihn erwartungsvoll an, was er dazu sagen werde. Er machte ein Gesicht, als ob er mit der rechten Hälfte lachen und mit der linken weinen wolle.
„Nun, wie gefällt es Ihnen?“ fragte sie.
„Köstlich, ßehr köstlich! Dispendioso, prezioso!“
„Nicht wahr! Nun sollten Sie erst meine Reime hören, wenn ich
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