66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
fürsorglich eingewickelt und streckte das Köpfchen mit den klugen Äuglein und den beiden Ohrfahnen heraus. Ein drittes war dem Mädchen auf den Schoß gesprungen, ein viertes saß auf der einen Achsel Paulas und beugte das Köpfchen weit vor, um ihr ein Zuckerstück von den Lippen zu nehmen. Es mochten wohl acht oder zehn dieser Tierchen sein, welche so zahm waren, daß ein jedes auf seinen Namen hörte und an der Herrin emporsprang, wenn derselbe genannt wurde.
„Nun, hab ich halt recht?“ flüsterte der Sepp.
„Ein wunder-, wunderliebliches Bild!“ antwortete die entzückte Dichterin.
„Ja, lieblick, ßehr lieblick! Giocondo ed dilettevole, forte dolce ed soave!“ stimmte der italienische Konzertmeister bei, indem er den Regenschirm wie ein Cello ansetzte und leise mit dem Stock darüberstrich, als ob er im Begriff stehe, einige gefühlvollen Takte vorzutragen.
Aber dieses lebende Bild wurde leider unerwartet gestört. Es gab noch einen Lauscher, welcher ungesehen hinter einer Tanne gestanden hatte, ein großer, starker Bursche, welcher jetzt hervortrat.
„Schau, die Paula!“ rief er mit rücksichtsloser Stimme. „Da füttert s' und hätschelt s' wieder die Viehzeuger, unsereinen aber läßt s' hungern und dursten.“
Das Mädchen sprang erschrocken auf. Ihr Gesichtchen glühte vor Scham, so halbentblößt überrascht zu werden. Während sie schnell nach der Jacke griff, um sie anzuziehen, entflohen die Eichhörnchen blitzschnell an den Bäumen empor.
„Wie roh!“ flüsterte die Dichterin. „Man sollte diesem Flegel einige Hiebe geben!“
Der Wurzelsepp war mit den Augen unwillkürlich den kleinen Flüchtlingen gefolgt und hatte hoch oben in einer Baumkrone etwas entdeckt, was ihn zu der leisen Antwort veranlaßte:
„Hab keine Sorg! Er bekommt schon seinen Zahlaus. Schau, dort oben sitzt der Wasserfex in den Zweigen. Das wird ein Theadrum mundi geben, denn der Fingerl-Franz der da kommen ist, hat's auf die Paula abgesehn; kein Mensch kann ihn leiden, und der Wasserfex hat erst recht ein großes Gift und Gallen auf ihn. Er ist ein starker und gewalttätiger Patron und malträtiert den Fex, wo er ihn nur finden kann. Der Fex duldet es; aber er fürchtet sich nicht vor ihm. Jetzt nun, wo es um die Paula gilt, wird's wohl ein Schauspiel geben, bei dem auch ich den Stock gebrauchen kann. Schau, wie dem Fex seine Augen förmlich herunterglühen!“
Die beiden andern blickten empor nach dem Baum, auf welchem der Genannte saß. Die Blätter, welche sich aus den kaum aufgebrochenen Knospen entwickelt hatten, waren noch zu klein, als daß sie ein wirkliches Laubwerk hätten bilden können; sie konnten keiner menschlichen Person als verbergender Schleier dienen; darum hatte sich der Fex eng an den Stamm geschmiegt, um hinter diesem versteckt zu sein. Von da aus, wo Paula gesessen hatte, war er nicht zu sehen, auch von da aus nicht, wo der unberufene Störenfried gestanden hatte. Von der Stelle aus aber, an welcher der Wurzelsepp mit der Dichterin und dem Konzertmeister sich befand, war er zu sehen, wenn auch nicht so deutlich, daß man alle Einzelheiten seiner Gestalt hätte zu unterscheiden vermocht. Man sah ein kleines, im Nacken sitzendes Gebirgshütchen, einen dichten, wirren Busch blonden Haare und ein bleiches, helles Gesicht, aus welchem zwei Augen wie die Lichter eines zornigen Raubtieres funkelten. Die übrige Gestalt hatte sich so eng an den Stamm und die starken Äste geschmiegt, daß sie von denselben kaum zu unterscheiden war.
Die drei Lauscher standen so versteckt, daß sie weder von Paula noch von dem Fex oder dem Franz gesehen werden konnten. Fingerl-Franz war ein Beiname, welchen der Betreffende jedenfalls von einer Geschicklichkeit erhalten hatte, die droben in den Bergen sehr in Übung und Pflege ist. Zwei Burschen, welche ihre Kräfte messen wollen, haken ihre Zeige- oder sonst einen beliebigen Finger gegenseitig ineinander, und jeder gibt sich nun alle Mühe, den andern von seinem Platz weg und an sich zu ziehen. Es kommt dabei sehr oft vor, daß die starken Söhne des Gebirges dabei Bänke, Tische, Stühle und alles umreißen, was ihnen im Weg steht. Der Franz war als der beste Fingerheld im weiten Umkreis bekannt; keiner vermochte, ihn zu besiegen, und als Anerkennung für diese Stärke und Gewandtheit hatte man ihm den Namen Fingerl-Franz gegeben.
Als er jetzt vor dem erschrockenen Mädchen stand, war er das echte, treffende Bild der rohen, ungefügen, rücksichtslosen
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