66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
im Kostüm dichte. Dann kommt der Geist über mich, und ich dichte unvergleichlich. Was aber diese Gedenktafel betrifft, so muß hier höchstwahrscheinlich ein Unglück passiert sein.“
„Ja, ein Unfall, una sventura, una sciagura.“
„Ich wäre begierig, es zu erfahren.“
Da erscholl eine Stimme hinter einem Busch hervor:
„Das könnt ihr halt schon bald erfahren.“
Die beiden erschraken und drehten sich nach der Seite um, um welcher gesprochen worden war. Ein alter, graubärtiger Mann trat hinter dem Busch hervor und nahm höflich den Hut ab, durch dessen viele Löcher zahlreiche Zweige gesteckt waren.
„Grüß Gott die Herrschaften!“ sagte er. „Ihr braucht euch nicht zu fürchten. Ich tu euch nix.“
„Wer sind Sie?“ fragte die Dame.
„Wer soll ich sein? Der Wurzelsepp bin ich.“
„Diesen Namen habe ich schon gehört, wohl vorigen Herbst, wenn ich mich nicht irre.“
„Das ist halt richtig. Ich kenne dich.“
„Wirklich?“
„Ja. Du bist die Schwester der Mondsüchtigen, die Dichterin. Du hast drüben gegen die Grenz hin gewohnt und dem Krickel-Anton damals aus der Patsche geholfen.“
„Mein Gott! Das weißt du?“
„Alle Welt hat's erfahren. Aber du brauchst dich halt nicht darüber zu schämen. Es war ganz brav von dir. Also, was dies Brett zu bedeuten hat, willst wissen?“
„Ja; weißt du es?“
„Das wohl. Hier ist nämlich ein armer Holzknecht von einer großen Eichen erschlagen worden, die er hat fällen wolln. Da habn sie ihm das Gedenklein hergehangen.“
„Der Arme! Hat er Familie hinterlassen?“
„Einen Buben, den Wasser-Fex unten in der Talmühl. Wann du hinuntergehst, wirst ihn sogleich sehn. Er sitzt am Wasser und fährt die Leut über. Gehst wohl hinab?“
„Ja.“
„Ich auch. Wir können halt mitsammen gehn.“
Er fragte also gar nicht, ob es der Dame und dem Herrn angenehm sei, daß er mit ihnen ging. Er holte ganz einfach seinen Rucksack hinter dem Busch hervor, warf ihn über den Rücken und schritt neben den beiden her.
Der Konzertmeister machte ein saures Gesicht; die Dichterin aber betrachtete den Sepp mit freundlichen Augen.
„Freut mich, daß ich dich kennenlerne“, sagte sie. „Ich habe die Naturkinder gern.“
„Ja, die unnatürlichen hat man niemals gern“, antwortete er sehr ernsthaft.
„Bist du auf der Mühle bekannt?“
„Sehr.“
„Es wohnt sich gut da?“
„Ja und nein. Wer als Badegast hier wohnt, dem geht's halt nicht sehr übel; wer aber als Gesind beim Müller ist, der mag sich schon in acht nehmen.“
„Ist er schlimm?“
„Ja, er und seine Peitsche.“
„Wie! Gebraucht er die Peitsche?“
„Sehr. Er leidt nämlich an der Gicht und kann also nicht von der Stell, sondern sitzt Tag und Nacht in seinem Lehnstuhl. Damit er nun trotzdem das Gesind erreichen kann, hat er sich eine lange Peitschen angeschafft, welche über die ganze Stub weggeht. Wann er nun was anbefiehlt und es geschieht nicht sogleich, so greift er zur Peitschen und gibt dem Befehl solch eine Kraft, daß sofort alles rennt. Darum heißt er auch der Peitschen-Müller. Am schlechtesten hat's der Fex bei ihm.“
„Der Sohn des verunglückten Holzknechts?“
„Ja. Damals hat niemand das arme Kind annehmen wollen, welches bereits vorher ein Waisenkind gewest ist. Es ist nämlich mal eine Zigeunerband hier gewest, die den kleinen Bubn hier zurückgelassen hat. Der Holzknecht hat sich seiner angenommen, und als er von der Eich erschlagen worden ist, da fand sich keiner, der den Buben haben wollt. Da ist er dann von Gemeindewegn zum Müller getan worden. Der hat ihn erzogen, aber wie. Mit der Peitschen, mit Hunger, Durst, Frost und nix weiter sonst.“
„Das ist doch unmenschlich!“
„Was fragt der Müller danach. Der Bub hat alle Schul versäumen müssen und nix lernen können, weil er für vier Personen arbeiten mußt. Jetzt nun hat er die Fähre über, bei Tag und Nacht. Er bekommt halt keinen roten Pfennig dafür, denn alles, was er einnimmt, muß er dem Müllern geben. Wann ihr seine Kleider anschaut, so wird's euch warm ums Herz werden. Und mit der Nahrung ist's ebenso.“
„Wie alt ist er?“
„Das weiß niemand genau. Ich schätz ihn halt so achtzehn Jahr. Er ist ein ganz sonderbarer Mensch, gar nicht wie andere Bubn. Er spricht ganz selten ein Wörtle. Wer ihn nicht kennt, der muß ihm die Antwort abkaufen. Aber er hat auch Ursach dazu, denn alles, alles hackt auf ihn eini, und wann ein Unrecht geschehen ist, so soll er es
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