67 - Der Weg zum Glück 02 - Die Dorftyrannen
kann.“
„Nun, ich glaube Ihren Geschmack zu kennen. Sie haben das Buch durchgelesen; der Inhalt ist Ihnen bekannt. Ein Kapitel handelt von dem Tschadsee, jenem großen Wasserbecken im Sudan, an dessen Ufer sowohl die Vegetation als auch die Tierwelt in ihren riesigsten Formen vertreten ist. Krokodile, die riesigsten unter den Amphibien, bewohnen das Wasser; Löwen, Elefanten, Nashörner, Flußpferde trinken am Ufer. Gigantische Schlangen winden sich durch das hohe Gestrüpp. Und diese Ufer werden in Schatten gehüllt von Bäumen, deren Spitzen höher ragen als die Wetterfahnen unserer Kirchtürme. Palmen, Affenbrotbäume, Talha's und andere Riesen verbieten den Sonnenstrahlen den Zutritt zu der Fläche des Sees. Es ist alles groß, erhaben, gigantisch, riesig. Eine Szene am Ufer dieses Sees, das wäre ein Sujet für Sie.“
Der Kranke nickte nur. Seine Augen leuchteten, seine dünnen, wächsernen Finger spielten zitternd mit dem Bleistift. Der Lehrer fuhr fort:
„Und dieses Riesenhafte müßte gemildert werden durch eine Fabel, deren Gestalten aus dem Schattendunkel leuchteten. Sie haben gelesen, daß sich ein kleines, helles, unscheinbares, liebliches Blümchen in großen Massen auf der Oberfläche des Sees bewegt?“
„Die heimatlose Fanna“, antwortete Hans.
„Warum wird sie so genannt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Nun, sie wurzelt nicht am Boden des Sees; sie lebt nur an der Oberfläche desselben und folgt der Richtung des leisesten Windes. Sie blüht also nicht an einer festen Stelle und heißt darum die heimatlose Fanna. An diese Blume knüpft sich eine Sage, von welcher sich die dortigen Eingeborenen erzählen. Auf dem Grund des Wassers wohnt nämlich ein herrliches Meerweib von so wunderbarer Gestalt, daß kein Mensch, der sie erblickt, ihr zu widerstehen vermag. In hellen Mondnächten erscheint sie auf der Oberfläche, weiß von Farbe, wie ein Christenweib, nur noch viel herrlicher und entzückender. Rudert nun ein Jüngling über das Wasser und erblickt er sie, so ist's um ihn geschehen. Er springt aus dem Kahn in ihre Arme und verschwindet mit ihr in der feuchten Tiefe – auf Nimmerwiedersehen. Seine Seele wird in eine Fanna verwandelt, in eine jener lichten Blüten, welche heimatlos auf den Wassern treiben. So viele Blüten als da schwimmen, so viele Jünglinge hat das Geisterweib bereits hinab in die Tiefe gezogen. Nun denken Sie sich ein Bild, eine Uferpartie des Tschadsees vorstellend, der Mond über den riesigen Bäumen stehend, und im Wasser das Meerweib, einen Fischer aus dem Kahn ziehend. Das ist ein Entwurf, wie er besser Ihnen wohl nicht geboten werden kann.“
„Ob ich es fertig bringe!“ flüsterte der Kranke.
„Nein, das ist unmöglich.“
„Ah!“
„Ja, es ist unmöglich. Dazu gehört neben dem Genie eine jahrelange Schulung, welche Sie nicht besitzen. Aber suchen sollen Sie es; eine Probe soll es sein, wieweit man auf Ihre Begabung rechnen kann. Und hernach, wenn es glückt, dann –“
Er hielt inne.
„Dann?“ fragte Hans.
„Dann weiß ich einen, der Sie ausbilden lassen wird.“
„O Gott, wenn das wäre!“
„Beweisen Sie, daß Sie Begabung besitzen, so wird er Ihnen seine Hand reichen.“
„Wer ist's?“
„Der König.“
Alle fuhren erschrocken auf.
„Der König!“ sagte der Finken-Heiner. „Wo denkens hin, Herr Lehrern! Wird unser König sich mit meinem Hans abgeben?“
„Warum bezweifeln Sie es?“
„Weil ich's mir halt gar nicht denken kann, daß so ein großmächtiger und vornehmer Herr einen Sinn für unsereinen hat.“
„Da irren Sie sich. Es gibt viele, viele vornehme Herren, welche ein echtes und rechtes Herz für das Volk haben, und bei unserm guten König ist dies erst gar sehr der Fall.“
„Ich kann mich aber doch nicht drein denken. Und wie soll er von unserm Hans derfahren?“
„Ich schreibe es ihm.“
„Sie? Kennen 'S ihn denn?“
„Ich werde doch meinen König kennen!“
„Aber kennt er auch Sie?“
„Nein. Er hat mich weder gesehen, noch jemals von mir gehört.“
„Da schaun 'S! Wanns ihm auch schreiben, so wird er das Brieferl gar nimmer lesen, sondern gleich in denen Ofen werfen oder ein Käs und Brot hineinwickeln, wann er mal spazieren geht und sein Frühstücken in dera Taschen mitnimmt.“
„Da irren Sie sich. Doch wollen wir uns in Beziehung auf diesen Punkt noch gar nicht mit Sorgen quälen. Jetzt ist die Hauptsache, daß sich unser Hans an die Arbeit macht. Ich habe hier Papier und
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