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einfach nicht zu ihm passe. »Es tut mir Leid, Ken-san, es tut mir Leid, Adama. Ich helfe bei der Vorbereitung, ich helfe bei dem Festival, aber diese Sache mit der Schulbarrikade gefällt mir nicht ...« Im Wesentlichen schien er sagen zu wollen, dass sich dahinter kein handfestes politisches Motiv verbarg, dass ich es nur machte, damit ich als große Nummer dastand. Das machte mich echt fertig, und das gestand ich Adama, nachdem Iwase gegangen war. »Was für einen Unterschied macht das schon?«, sagte er. »Wer braucht schon Politik? Wir machen es aus Spaß, oder nicht? Ken, es macht Spaß, das reicht.« Trotzdem merkte ich, dass er sich genauso down fühlte wie ich.
Und dann kam der 19. Juli .
ALLE MACHT DER FANTASIE
Ich musste um elf aus dem Haus gehen, und das war gar nicht so einfach. Meine Mutter, meine kleine Schwester und meine Großeltern schliefen schon, aber mein Vater war noch auf. Er schaute sich die 23 Uhr -Show an. Seitdem diese Sendung lief, blieb er jeden Abend über seine eigentliche Schlafenszeit hinaus auf.
Unser Haus stand wie die meisten in Sasebo an einem Berghang. Die Häuser auf dem schmalen Streifen flachen Landes gehörten der amerikanischen Armee und einer Hand voll von Leuten, die reich geworden waren, indem sie auf die eine oder andere Art mit ihr Geschäfte machten.
Da mein Vater noch wach war, konnte ich es nicht riskieren, durch die Vordertür zu verschwinden. Unser Haus lehnte sich an den Hang, und die Hintertür führte auf eine der langen schmalen Treppen hinaus, die alle Straßen in der Nachbarschaft miteinander verbanden. Mein Zimmer lag im zweiten Stock. Zunächst musste ich meinem Vater sagen, dass ich zu Bett ging. Ich klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers.
»Gute Nacht, liebster Vater.«
Ich schätze, es ist klar, dass ich in Wirklichkeit nicht so mit ihm redete. Was ich tatsächlich sagte, war folgendes: »Hey, ich geh’ jetzt ins Bett.«
Er saß vor dem Fernseher und amüsierte sich damit, die Bikini-Mädchen in der 23 Uhr- Show zu betrachten, aber dann drehte er sich in seinem Sessel um und musterte mich mit einem beinah feierlichen Blick. »Jetzt schon? Warum?«, fragte er und fing an, mir davon zu erzählen, wie er bis 4 Uhr morgens aufgeblieben sei, um zu lernen, als er vor dem Krieg auf der Oberschule gewesen sei, aber dann unterbrach er sich und erinnerte sich wahrscheinlich an das, was über die Mattscheibe flimmerte, und sagte mit einem Räuspern: »Ken, ich will nicht, dass du etwas tust, was deine Mutter aufregen könnte.« Mein Herz stand still. Wusste er, was ich vorhatte? Nein, das konnte er unmöglich, aber... ich will nicht, dass du etwas tust, was deine Mutter aufregen könnte. Scheiße. Was für ein Zeitpunkt, um mir eine Predigt zu halten! Ich ging zurück in den zweiten Stock, zog mich um und kletterte leise auf die Terrasse, auf der wir die Wäsche trockneten. Es war Vollmond. Ich bemühte mich, kein Geräusch zu machen, während ich in meine Basketballschuhe schlüpfte. (Wir sagten damals nicht »Sneakers«, wir sagten »Baschu« - eine Abkürzung für »Basketballschuhe«.) Von der Terrasse kletterte ich zum Dach des ersten Stocks hinunter. Vor mir lag ein kleiner Friedhof; eine Reihe von Grabsteinen leuchtete im Mondlicht, sie waren etwas weiter oben am Hang aufgestellt und befanden sich deshalb ungefähr auf derselben Höhe wie das Dach. Ich sprang hinunter auf den Friedhof - oder besser, ich sprang auf einen Grabstein. Man konnte mich nicht eigentlich religiös nennen, aber ich fühlte mich trotzdem jedes Mal ein bisschen schuldig, wenn ich das tat. Ich benutzte immer dieses eine Grab, wenn ich mich davonschlich, um in Cafés zu gehen oder in einen Pornofilm oder zu Adamas Pension, und ich war mir sicher, dass der Fluch seines Bewohners eines Tages über mich kommen würde. Als ich noch ein kleiner Junge war, hatte mein Großvater einen Freund, einen Glatzkopf, der Offizier bei der Marine gewesen war. Mein Großvater war nur Leutnant gewesen, und so kommandierte Glatzkopf ihn auch noch herum, als der Krieg schon mehr als einem Jahrzehnt vorüber war. Glatzkopf kam immer mitten am Tag vorbei, um was zu trinken, und Großvater machte munter mit. Ich mochte Glatzkopf, weil er mir jedes Mal ein neues Bilderbuch mitbrachte, wenn er kam. Aber er hatte eine schlechte Angewohnheit: Immer wenn er betrunken war, ging er nach draußen und pinkelte auf den Friedhof. Meine Großmutter konnte das nicht ausstehen und sagte ständig, es würde ihm
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