69
mir. »Ich werde wahrscheinlich nie wieder in meinem ganzen Leben so nervös sein«, stotterte Nakamura mit zitternden Lippen. »Halt die Klappe, du Arsch«, zischte Adama. Obwohl ich schwitzte, waren meine Lippen knochentrocken und meine Kehle ausgedörrt. Wir gingen am Lehrerzimmer, am Büro der Verwaltung und dem Büro des Rektors vorbei zum Vordereingang. Die meisten Schüler kamen an jedem Wochentag durch diese Türen herein. Mit großen Strichen schrieb ich in roter Farbe »Kill!« auf die Wand. Nakamura starrte mich mit offenem Mund an und fragte, ob das nicht zu weit ginge. Adama zischte ihn wieder an und zeigte nach rechts, zum Raum der Wachleute neben dem Eingang. Der Raum der Wachleute. Es gab zwei Wachmänner, einen alten und einen jungen. Aber es brannte kein Licht mehr; wahrscheinlich hatten sie die 23 Uhr -Show geguckt und waren danach schlafen gegangen. Auf den Boden direkt vor der Eingangstür schrieb ich: »Ihr seid alle hirntot! Scheiß auf die höhere Schulbildung!« Nakamura fing an zu zittern wie ein Junkie auf Entzug. Er hockte sich neben eine der Säulen und tat nichts, um uns zu helfen. »Das ist ganz und gar nicht cool«, flüsterte Adama mir zu. Ich bemerkte, dass auch er nervös war; er leckte sich immer wieder über die Lippen. Das Gebäude war totenstill, und das einzige Licht kam vom Mond und strömte durch die Fenster herein; es war wie auf einem anderen Planeten. Die Tatsache, dass wir fast jeden Tag in einer lärmenden Gruppe durch dieses Gebäude klapperten, machte die Anspannung nur noch schlimmer. Wir zogen Nakamura auf die Füße und schleppten ihn vom Eingang weg, bis vor das Büro des Rektors. Es war eine kleine Erleichterung, von der Tür zum Wachraum wegzukommen, aber jetzt hyperventilierte Nakamura. »Arschloch«, sagte ich, »geh zurück zum Pool.« Nakamura schüttelte den Kopf. »Ihr versteht nicht. Ich ... ich ...« Schweiß lief ihm das Gesicht herunter. »Was? Was ist los?« Nakamura wackelte wieder mit dem Kopf. Adama packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Sag’s uns. Was ist? Ken und ich haben auch Angst, Mann. Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Wo liegt das Problem?«
»Ich muss mal Kacka .«
Das war nicht fair: Warum sollten seine Verdauungsprobleme uns Magenschmerzen bereiten? Ich wälzte mich auf dem Boden und versuchte, mein Lachen zu unterdrücken, dabei hielt ich mir mit der rechten Hand den Mund zu und mit der linken den Bauch fest und krümmte mich vor Schluckauf-Krämpfen. Adama tat dasselbe. Anspannung verstärkt Lachanfälle nur noch: Es ist nie so schwer, mit dem Lachen aufzuhören, wie dann, wenn man nicht lachen darf. Wir mussten nur »Kacka« nuscheln, und das Kichern explodierte in unseren Gedärmen und blubberte unsere Kehlen herauf. Ich schloss die Augen und versuchte, mich an die traurigsten Sachen zu erinnern, die mir je passiert waren: der Neujahrstag, an dem meine Eltern mir nicht das Patton-Panzermodell kauften, das ich mir gewünscht hatte; die Zeit, als Vater eine Affäre hatte und meine Mutter für drei Tage das Haus verließ; meine kleine Schwester mit Asthma im Krankenhaus; meine Taube, die nicht zurückkam, als ich sie fliegen ließ; das eine Mal, als ich bei einem Festival mein Taschengeld verlor; der Strafstoß im Fußball-Bezirksfinale der Mittelschulen, den unser Team verschossen hatte. Nichts davon funktionierte. In Gedanken zeichnete ich das Bild von Kazuko Matsui: ihre schlanken, milchigen Unterschenkel, ihre Bambi-Augen, ihre weißen Arme, die ehrfurchtgebietende Kurve ihres Nackens - und die Krämpfe hörten plötzlich auf. Das ist die Macht von schönen Frauen: Sie können sogar ein Lachen zum Verstummen bringen, einen Mann nüchtern und ernst werden lassen. Nach einer Weile stand auch Adama auf, schweißüberströmt. Er erzählte mir später, dass er sich die verkohlten Leichen vorgestellt hatte, die er einmal nach einer Minenexplosion gesehen hatte. Es musste ihn wütend gemacht haben, dass er gezwungen wurde, sich an so eine Szene zu erinnern; er schlug Nakamura mit der Faust leicht gegen den Kopf.
»Arschloch. Ich dachte, ich verliere den Verstand«, sagte ich und öffnete leise die Tür zum Büro des Rektors. »He, Nakamura.«
»Ja?«
»Hast du Durchfall?«
»Ich weiß nicht.«
»Kannst du es jetzt sofort machen?«
»Es streckt schon den Kopf raus.«
»Mach es hier oben.«
»Hä?«, sagte er, und sein Unterkiefer klappte herunter.
Ich zeigte auf den Schreibtisch des Rektors .
»Das
Weitere Kostenlose Bücher