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Algerien und Vietnam waren weit weg. Das hier war Japan, das Land des Friedens. Sicher, wir hörten jeden Tag das Donnern der Phantom-Jets. Eine Ex-Mitschülerin vertrieb sich die Zeit, indem sie schwarzen Matrosen die Schwänze lutschte. Aber es wurde kein Blut vergossen. Es wurden keine Babys durch Napalm verstümmelt. Was tat ich also in diesem dampfenden Dreckloch auf einem Polizeirevier in einer kleinen Stadt am westlichen Zipfel eines Landes wie diesem? Würde ich die Welt verändern, wenn ich meinen Mund hielt? Die radikale Bewegung an der Universität von Tokio lag schon in Trümmern. Ich wollte etwas, an dem ich mich festhalten konnte, eine Basis, von der aus ich diesem runzligen alten Kerl mit den trüben Augen vor mir Widerstand leisten konnte. Ich konnte sagen: »Ich kann Sie nicht ausstehen!«, und ihm die Zunge rausstrecken, aber das war auch schon alles, was ich tun konnte. Der Teil von mir, der sich danach sehnte, an einem Eis zu lutschen, stellte immer wieder Fragen: Warum hast du die Schule verbarrikadiert? Du bist kein algerischer Rebell oder Vietkong oder einer von Ches Guerilleros. Was tust du hier? Ich wusste verdammt gut, dass ich das alles getan hatte, weil ich wollte, dass Kazuko Matsui mich mochte, aber irgendwie war es schwierig, das jetzt als Motiv anzuerkennen.
Sasaki rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er setzte sich aufrecht hin und bedachte mich mit einem mürrischen Blick.
»Willst du vielleicht als Penner enden, Yazaki? Ich habe eine Menge von denen gesehen, weißt du. Obdachlose, die herumlaufen und nicht wissen, wo sie hin sollen. Vielleicht bist du dafür gemacht, einer von denen zu werden - du scheinst das freie und ungebundene Leben zu mögen, was? Ich kenne viele Menschen, die so einen Weg eingeschlagen haben. Ja, du erinnerst mich an ein paar von denen. Weißt du, es gibt nicht viele blöde Bettler. Natürlich, wenn sie erst einmal Bettler sind, fangen sie an, ihren Grips zu verlieren, aber die meisten von ihnen hatten eine Zeit lang vor, auf eine gute Universität zu gehen - Tokio, Kyoto, etwas in der Art. Ja ... es ist einfach so, dass dann etwas falsch läuft, irgendeine Kleinigkeit, sie machen einen winzigen Fehler, und ehe sie sich’s versehen, liegen sie auf der Straße. Sie stinken fürchterlich, diese Leute, weißt du?«
Ich trank etwas Gerstentee. Dann warf ich das Handtuch.
Es war nach elf, als ich an jenem Abend nach Hause kam. Eis am Stiel war so ungefähr das Letzte, an was ich dachte. Meine Eltern sagten eine ganze Weile gar nichts, aber meine Schwester kam in einem niedlichen Schlafanzug mit Schweinchenmuster aus dem Bett, um mich zu begrüßen. »Du bist lange weggeblieben, nicht?«, sagte sie. »Da läuft ein Film mit Alain Delon, den ich sehen möchte. Gehst du mit mir hin?« Entweder wusste sie von nichts, oder sie versuchte nur, die Stimmung zu verbessern. »Ja, sicher, ich geh’ mit dir hin«, sagte ich mit einem gezwungenen Lächeln, was mir ein »Oh Klasse!« und einen Kuss auf die Wange einbrachte.
Als sie wieder im Bett lag, murmelte mein Vater: »Alain Delon, was?« Er hatte seine Arme verschränkt und schaute zur Decke. »Wie hieß dieser Film mit Alain Delon und Jean Gabin? Du und ich und deine Mutter haben ihn uns vor ein paar Jahren angesehen.«
»Lautlos wie die Nacht«, sagte meine Mutter. Man konnte noch sehen, wo ihr die Tränen das Gesicht heruntergelaufen waren.
»Richtig, richtig.«
Mein Vater schwieg wieder für einige lange Minuten. In solchen Momenten ist das Ticken einer Uhr so laut wie eine Trommel. Eine seltsamer kleiner Gedanke kam mir in den Kopf: Egal, was für eine Scheiße passiert, die Zeit läuft weiter.
»Ken.« Mein Vater drehte sich plötzlich um und schaute mich an. »Was ist, wenn du von der Schule fliegst ?«
Offensichtlich hatten die beiden sich gründlich unterhalten, während ich weg war.
»Na, dann mach’ ich die staatliche Abschlussprüfung. Ich geh’ auf jeden Fall aufs College.«
»Ja«, sagte er ruhig. »In Ordnung. Geh ins Bett.«
»Die Polizei hat uns gestern angerufen. Das hier ist kein Problem, das wir aus der Welt schaffen können, indem wir euch einfach nur die Leviten lesen. Der Rektor wird euch eure Strafe mitteilen, sobald darüber entschieden ist. Jedenfalls solltet ihr versuchen, bis dahin sauber zu bleiben.«
Es war der Morgen, an dem der zusätzliche Sommerunterricht anfangen sollte. Matsunaga, unser Klassenlehrer, hatte Adama und mich ins Lehrerzimmer gerufen. Eine seltsame
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