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69

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Titel: 69 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryu Murakami
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Ausbildung an den Universitäten in Japan ist heute nicht dazu bestimmt, nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu produzieren, sondern dazu, die Leute auszusortieren und sie zu Werkzeugen des kapitalistischen Nationalstaats zu machen ...«
    Ich redete und redete und diskutierte alles von der Vereinigten Campus Aktions Bewegung, dem Marxismus, der Lehre aus den Aufständen wegen der Sicherheitsverordnung 1960, Camus’ absurden Romanen, Selbstmord und freiem Sex, Nazitum, Stalin, Kaisertum und Religion, der Mobilisierung der Studenten, den Beatles und Nihilismus ... bis hin zur abartigen Apathie des alten Mannes, der den Friseurladen führte.
    »Ich fürchte, ich verstehe das meiste davon nicht richtig ...«
    Ich konnte wohl kaum sagen: »Natürlich nicht; ich verstehe es ja auch nicht.« Also sagte ich ihr, dass niemand am Generationskonflikt schuld sei und man sich dessen nicht zu schämen brauche. Ich hatte schon seit langem nicht mehr so viel geredet, und meine Kehle wurde davon trocken. Es machte keinen Spaß, mit Matsunaga zu reden - alles, was man für seine Bemühungen bekam, war ein ironisches Lächeln -, und es war zu peinlich, mit meinen Eltern über solche Sachen zu reden, weil wir den regionalen Dialekt benutzten. Versuch zum Beispiel mal, über Camus’ Die Pest im Dialekt zu reden, und es kommt dabei so etwas raus wie: »Die Pest, weißte, dat is nich nur über so ’ne Krankheit. Dat is ’ne Metapher, ’n Symbol für ’nen Faschismus, Kommunismus , so ’ne Dingens halt.« Jeder merkt sofort, dass du einfach nur die Gedanken von jemand anders wiederkäust. Aber ein Gespräch mit der Mutter deines Freundes zu führen war erfrischend. Sie hatte nie deine Windeln gewechselt oder dir einen Klaps gegeben und dich zum Weinen gebracht, nachdem du dich mit deiner kleinen Schwester um ein süßes Brötchen gestritten hattest, oder sich abgerackert, indem sie dich auf dem Rücken herumschleppte. Du konntest sagen, was dir gerade in den Kopf kam, und dir einreden, dass es sich intelligent anhörte.
    »Aber in gewisser Weise verstehe ich es doch. Ich habe im Krieg Büroarbeiten für ein Flugabwehrbataillon gemacht und gesehen, wie Soldaten bei Luftangriffen ums Leben kamen. Du und Tadashi, ihr versucht, eine Welt zu gestalten, in der solche Dinge nicht vorkommen, nicht wahr?«
    Ich wollte ihr nicht sagen: »Nein, ich versuche nur die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und Mädchen anzulocken.«
    »Ehrlich gesagt, ich glaube, Tadashi beruhigt sich langsam ein bisschen. Jetzt kommen ihn manchmal Freunde besuchen und ... Na gut, ich weiß, es ist nicht direkt erlaubt, aber Herr Matsunaga war so freundlich, es ein-oder zweimal zu übersehen. Erst gestern sind zwei sehr nette Mädchen auf dem Rückweg vom Strand vorbeigekommen.«
    »Was?« Ich hob den Kopf und starrte sie an. »Mädchen? Sie meinen, aus der Schule?«
    »Ja. Aber sie sind aus einer anderen Klasse, glaube ich. Ein sehr süßes Mädchen namens Matsui-san und eine andere, die Sato-san heißt, glaube ich, groß und ziemlich attraktiv ...«
    Das Blut schoss mir in den Kopf, und den Rest hörte ich nicht mehr. Lady Jane und Ann-Margret waren bei Adama gewesen. Warum sollten zwei so kultivierte, intelligente, mutige und schöne Frauen einen Typen besuchen, der einen Dialekt sprach, den man nur mit Hilfe eines Übersetzers verstehen konnte? Und wie konnte eine Lady so wankelmütig sein und ihren Ritter in seiner glänzenden Rüstung verlassen und betrügen, obwohl er ihr Cheap Thrills geschenkt hatte? Auf dem Rückweg vom Strand, hatte sie gesagt? Sie hatten doch nicht etwa noch ihre Badeanzüge an? Nein, ganz bestimmt nicht, aber trotzdem ... Lady Jane, deren Schultern die weißen Streifen ihrer Träger zierten, die nach Sonnenmilch duftete, begibt sich weit weit weit weit weit weg in die Pampa, wo es nichts als Schlackehalden gibt, um Wassermelonen frisch vom Feld irgendeines Bauern zu essen, die in einem nahe gelegenen Bergbach gekühlt wurden. Und ich? Ich musste Adamas Mutter trösten. Luftangriffe? Na wenn schon. Sollen wir mal über wirkliche Ungerechtigkeit reden? Als Meursault den Araber erschoss, gab er der Sonne die ganze Schuld. Ich fühlte mich wie Camus.
    Das Leben ist absurd.

    Ich rief Adama an und schäumte innerlich immer noch vor Wut.
    »Hey, Ken«, sagte er. »Meine Mutter ist heute bei dir gewesen, nicht?« Zum Teufel auch. Er wusste davon. »Tut mir Leid. Ist sie noch da?«
    »Gerade gegangen.«
    »Sind deine Eltern da?«
    »Sie

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