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69

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Titel: 69 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryu Murakami
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ein Zettel: »Ich hoffe, diese sieben roten Rosen lenken dich von deinem Ärger ab, wenn auch nur für eine kurze Zeit ... Jane.«

    Meine Schwester arrangierte die Rosen für mich in einer Vase. Ich stellte sie auf meinen Schreibtisch und betrachtete sie die ganze Nacht. Camus hatte Unrecht.
    Das Leben war nicht absurd.
    Es war rosenfarbig.

    Ich wurde in zwei Tagen mit dem Drehbuch fertig. Der Titel lautete Etüde für eine Babypuppe und einen Oberschüler. Lange Titel waren damals populär. Ich blieb bis zum Sonnenaufgang auf und schrieb daran.
    Mein Vater hat mir mal erzählt, wie er mich in ein Schwimmbad mitgenommen hat, als ich drei war. Ich war schon einmal fast im Meer ertrunken, also hatte ich Angst vor dem Wasser und und wollte nicht hinein. Er versuchte es, indem er mich anschrie, mich lockte, mich mit einem Stock schubste und mich mit Eiscreme bestach, aber ich schrie und heulte einfach weiter. Dann tauchte ein niedliches kleines Mädchen ungefähr in meinem Alter auf. Sie rief mich vom Schwimmbecken aus. Ich zögerte, sprang aber schließlich hinein - ihretwegen. Als ich mit dem Drehbuch fertig war, machte ich ein kleines Nickerchen und begann dann direkt mit dem Text für das Theaterstück. Ich brauchte drei Tage, um es zu schreiben. Der Titel lautete Jenseits der blutroten See der Negativität und Rebellion. Es gab nur zwei Darsteller -eine junge geschiedene Frau und ihren jüngeren Bruder, der es nicht geschafft hatte, auf die Universität zu kommen.
    »Ein Theaterstück?«, fragte Adama. »Wer soll darin spielen?«
    »Ich. Ich und Lady Jane.«
    »Sie, das kann ich verstehen. Aber du? Kannst du spielen?«
    »Hey, ich war das zweite der Drei kleinen Schweinchen in der Grundschule, Mann. Ich werde natürlich auch Regie führen.«
    »Du hast keine Nacktszenen und so’n Zeug drin wie in Hair, oder?«
    »Was glaubst du denn, du Idiot?«
    »Aber ich wette, du hast versucht, eine Liebesszene oder so was einzubauen. Lass das lieber, Mann. Matsui wird das gar nicht gefallen.«
    Ich strich die Liebesszene, sobald wir aufgelegt hatten.

    Einen Tag, nachdem die Rosen gestorben und vorsichtig in einer Schublade meines Schreibtischs zur Ruhe gebettet worden waren, tauchte Matsunaga auf, lächelte und sagte: »Gute Nachrichten.«
    Unsere Strafe war vorüber.
    Nach einhundertundneunzehn Tagen.

AMORE ROMANTICO
    Zum ersten Mal nach einhundertundneunzehn Tagen saß ich wieder an meinem Pult in der Schule. Das alte Schultor, der alte Schulhof, das alte Klassenzimmer - ich war auch nicht ein bisschen glücklich darüber, sie wiederzusehen. Sie hatten immer noch genauso etwas Kaltes und Gleichgültiges an sich wie vor meiner Suspendierung.
    Abgesehen von Matsunaga behandelten uns alle Lehrer, als wären wir uneheliche Bälger, mit denen sie nach nur einem kleinen Fehltritt sitzen gelassen worden wären. Wir waren weder Helden noch Schurken, einfach nur störend und nicht willkommen.
    Wir hatten Englische Grammatik. Der kleine Gnom, der unterrichtete, entblößte sein Zahnfleisch, während er Beispielsätze vorlas. Seine Aussprache war fürchterlich. Es hörte sich überhaupt nicht wie Englisch an, es war eine Sprache, die man nur in den Lehrerzimmern von Oberschulen in japanischen Provinzstädten sprach und verstand. Ich konnte mir diesen Kerl gut in London vorstellen - dort würde man wahrscheinlich annehmen, dass er irgendeinen geheimnisvollen orientalischen Fluch murmelte.
    Ich bemerkte, dass Adama in meine Richtung blickte. Er wirkte gelangweilt. Als er zum Fenster hinaussah, tat ich dasselbe. Draußen marschierte eine Gruppe von Grundschulkindern paarweise die Straße entlang. Sicher ein Ausflug. Hinter dem steilen Hügel vor der Schule lag ein dicht bewaldeter kleiner Berg, auf dem es einen Kinderspielplatz gab. Sie würden wahrscheinlich ein Picknick machen und »Bi-Ba-Butzemann« und »Taler, Taler, du musst wandern« spielen. Ich beneidete sie.
    Ich erinnerte mich daran, wie ich in der Grundschule meine Freunde und die Atmosphäre im Klassenzimmer und all das vermisste, wenn ich nur drei Tage lang mit einer Erkältung daheim bleiben musste. Dass ich in dieser Schule nach einer Abwesenheit von einhundertundneunzehn Tagen nicht dasselbe empfand, lag daran, dass es sich hier um eine Fabrik handelte, eine Sortieranlage. Wir unterschieden uns nicht von Hunden und Schweinen und Kühen: Wir alle - außer vielleicht die Ferkel, die in chinesischen Restaurants im Ganzen gegrillt wurden -durften spielen, solange wir noch

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