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69

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Titel: 69 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryu Murakami
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respektieren und zu denken, dass er wirklich ein verdammt guter Lehrer sei, aber Adama und ich waren weit entfernt von »Nichts ist wirklich so wichtig«.
    Adama wurde von Tag zu Tag missmutiger, und als das zweite Semester anfing, war ich auch ganz schön unruhig. An den Wochentagen gibt es auf den Straßen einer Provinzstadt keine Jugendlichen und keine erwachsenen Männer, es ist niemand zu sehen außer Hausfrauen und Rentnern und Kleinkindern und Hunden. Ich erinnerte mich daran, wie fremd mir die Stadt erschienen war, wenn ich von der Grundschule früher als sonst nach Hause kam. Der Geruch von Schnittblumen drang unter dem halb geschlossenen Rollladen des Floristen hervor, der Besitzer der Schuhgeschäfts öffnete gerade den Laden, staubte die Regale ab und gähnte, die Geräusche von Fernsehsendungen, die ich nie gesehen hatte, kamen aus offenen Fenstern, Kindergartenkinder tanzten hinter einem Zaun im Kreis, alte Männer hockten im Schatten von Bäumen und lachten zusammen. Dann kam mir die Stadt wie eine Fremde vor.
    Das war die Stadt, in der ich jetzt eingesperrt war, als die Sommerferien zu Ende waren. Ich begann mir wegen meiner Fehlzeiten Sorgen zu machen, denn ich hatte auch vor dem Arrest schon eine Menge Stunden geschwänzt. Allein der Gedanke daran, ein Jahr zu verlieren , reichte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Ich konnte auf keinen Fall ein weiteres Jahr an dieser Schule aushalten.

    Eines Tages, als es zu sehr regnete, um mit dem Hund spazieren zu gehen, und ich zu Hause saß und auf dem Schlagzeug spielte, klingelte es an der Tür. Im Eingang stand Adamas Mutter.
    »Erinnerst du dich an mich, Ken? Ich würde mich gern ein bisschen mit dir unterhalten, wenn das geht.«
    Sie klang ziemlich elend.
    »Aber erzähl Tadashi bitte nichts davon. Er würde dann wütend werden.«
    Es überraschte mich, dass in ihrer Stimme keine Spur von Adamas Akzent zu hören war.
    »Ich weiß, dass es auch keine Lösung ist, hierherzukommen. Aber ich habe niemanden, mit dem ich das sonst besprechen kann. Ich nehme an, du weißt, dass die Minen in unserer Stadt kurz vor der Schließung stehen? Nun, das sind schwere Zeiten für meinen Mann, und er ist im Moment einfach zu beschäftigt, um sich um Tadashis Probleme zu kümmern.«
    Sie wurde etwas steif und presste ein weißes Taschentuch gegen ihren Hals und ihre Stirn. Oh nein, dachte ich, was ist, wenn sie jetzt anfängt zu heulen?
    »Ich habe seit zwei oder drei Tagen nicht mehr mit ihm gesprochen«, sagte ich. »Geht es ihm gut?«
    Adamas Mutter gab einen tiefen Seufzer von sich und schüttelte den Kopf. Einen Moment lang sagte sie nichts. Erzähl mir nicht, er ist wahnsinnig geworden, dachte ich, und der Gedanke entsetzte mich. Es waren immer die coolen, ruhigen, gesammelten Typen wie Adama, die plötzlich unter dem Druck zusammenbrachen. Erzähl mir nicht, dass er sich Schleifen in die Haare bindet, einen Kimono mit Blumenmuster trägt und an der Orgel sitzt und sabbert und My Little Butterfly spielt ...
    »Um ehrlich zu sein, ich habe Tadashi noch nie zuvor so gesehen.«
    Es stimmte also ... Ich wette, er sitzt die ganze Nacht draußen und heult den Mond an, der über den Schlackehalden aufgeht.
    »Von allen unseren Kindern ist Tadashi mir am ähnlichsten. Er war immer so ein guter Junge, so gut erzogen. Wenn überhaupt, dann habe ich mir manchmal Sorgen gemacht, dass er zu ... gelassen für ein Kind ist. Er hat sich nie wegen etwas aufgeregt.«
    Ich dachte daran, ihr zu sagen, dass sie sich da irrte, dass ich ihn fast in Tränen aufgelöst gesehen hatte, nachdem er sich den Zeichentrickfilm über den Boxer Joe Tomorrow angeschaut hatte, und schnaufend und glucksend, während er Zeitschriften mit nackten Mädchen durchblätterte, aber ich entschied mich dagegen.
    »Und jetzt ist er so aufgebracht, so unverschämt zu seinen Lehrern ... Er entfernt sich immer mehr, sogar von mir.«
    Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass es noch seltsamer wäre, wenn ein Oberschüler in seinem Abschlussjahr am Schürzenzipfel seiner Mutter hinge, aber ich tat es nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Bevor er Hausarrest bekam, hat er oft von dir geredet, von seinem Freund Ken. Ich ... Darum dachte ich, ich würde gern ein bisschen mit dir reden. Was hältst du von dem Ganzen?«
    »Von was?«
    »Also, von den Aufnahmeprüfungen für die Universität zum Beispiel.«
    »Was ich von den Aufnahmeprüfungen für die Universität halte? Nicht viel. Die

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