7 Minuten Zu Spät
ein.
»O nein, meine Liebe, damals war es viel, viel schlimmer. Judy Gersten war eine unabhängige Frau. Sie war Jüdin, und sie kam aus Michigan. Sie war eine Ausländerin!«
»Beeil dich«, drängte Esther. »Komm endlich zum interessanten Teil.«
»Kennst du die Geschichte schon?«, fragte Ray.
»Nein, ich höre sie zum ersten Mal, genau wie du.«
»Woher weißt du denn dann, dass es noch einen interessanten Teil gibt?«
»Weil ich weiß, wie man eine Geschichte richtig aufbaut. Und meine Pammie weiß das auch.«
»Wollt ihr zwei mich jetzt endlich weiterreden lassen?« Pam blickte ihren Mann und ihre Mutter liebevoll an.
»Ja, mach weiter«, erwiderte Esther.
»Sal ist also mit Angie verlobt, und dann kommt Judy Gersten daher, die auf der Court Street eine Immobilienagentur eröffnet. Eine Außenseiterin. Mittlerweile hat Sal angefangen, Immobilien in der Nachbarschaft zu kaufen. Er mag Judy, deshalb gibt er ihr ein paar Geschäfte ab. Dann gibt er alle Geschäfte an sie ab. Als er sich mit Julius Pollack zusammentut und sie gemeinsam Mietshäuser kaufen, bekommt Judy einen großen Anteil an ihren Geschäften. Und die drei werden gemeinsam reich. Und Judy und Sal? Sie lieben sich.«
»Aber der Typ heiratet Angie trotzdem, oder?«, fragte Ray.
»Darauf kannst du wetten«, erwiderte Judy mit Nachdruck.
»Angie erklärt ihm, sie sei schwanger.«
»Aber ich dachte, Sal und seine Frau hätten keine Kinder?«, sagte Alice.
»Haben sie auch nicht.«
»Dann hat sie eine Fehlgeburt erlitten«, vermutete Esther.
»Nein«, sagte Pam.
»Sag es uns doch einfach«, drängte Ray. »Was ist denn passiert?«
»Angie hat zwar behauptet, sie sei schwanger, war es aber gar nicht.«
»Wieso denn das?«, fragte Ray.
Pam kostete den Moment aus und blickte triumphierend von einem zum anderen. »In Wahrheit war Judy schwanger.«
Schweigend verdauten alle diese Information. Alice fiel auf, dass nur Frannie ungerührt wirkte. Sie hatte Judy Gersten auf dem Revier vernommen, und vermutlich hatte sie ihr die Wahrheit entlockt.
»Es war neunzehnhundertdreiundsiebzig«, fuhr Pam fort.
»Abtreibung war gerade legalisiert worden. Aber Judy liebte Sal…«
»Judy Gersten bekam das Baby? Und Sal heiratete Angie trotzdem?«, sprudelte Alice hervor.
»Weil er glaubte, Angie sei schwanger, und sie war ihm als Frau nun mal bestimmt. Damals war es eben so. Noch bevor er überhaupt die Chance hatte herauszufinden, dass Angie gar nicht schwanger war, stand er schon vor dem Traualtar… sagen wir mal, Angies Vater ließ ihm keine andere Wahl.«
»Warte mal«, warf Ray ein. »Ist ihr Vater nicht Anthony Scoletto?«
»Genau.« Pam holte tief Luft. »Der Familie Scoletto schlägt man besser nichts ab. Und Sal liebte Angie wahrscheinlich auch. Sie kannten einander seit ihrer Kindheit, also heirateten sie. Aber sie hat nie Kinder bekommen. Judy aber bekam ihr Kind.«
»Und wo ist es?«, fragte Ray. »Es müsste ja mittlerweile erwachsen sein.«
»Dreißig«, sagte Alice. Ihre einfache Frage an Pam – wer Julius Pollacks Partner war – hatte dazu geführt, dass jemand Pam umbringen und es als Selbstmord hinstellen wollte. »Hat Judy das Kind aufgezogen?«
»Sie hat im letzten Augenblick einen Rückzieher gemacht. Damals gab es nur sehr wenige allein erziehende Mütter. Es gab noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür. Man nannte die Babys, die in außerehelichen Beziehungen gezeugt wurden, immer noch Bastarde.«
Alice schlug die Hände vors Gesicht.
»Sie gab es zur Adoption frei. Es war ein kleines Mädchen, das von einer französischen Familie adoptiert wurde – der Vater war Diplomat. Sie kehrten nach Frankreich zurück, als Judys Tochter noch ein Säugling war.«
Über Frannies Gesicht lief ein leichtes Zucken. Diesen Teil hatte Judy offensichtlich nicht zugegeben. Warum hatte sie gerade das verbergen wollen?
»Judy versuchte, das Baby zu finden, es gelang ihr aber nicht«, fuhr Pam fort. »Das tat ihr weh, und ich glaube, in dieser Zeit fing sie an zu trinken. Sie ist im Übrigen immer noch mit Sal zusammen, und sie machen auch noch gemeinsame Geschäfte – aber er ist auch immer noch mit Angie verheiratet.«
»Das muss man sich mal vorstellen!« Esther schüttelte den Kopf.
»Lassen Sie mich raten.« Alice blickte Pam an. »Judy hat ihre Tochter nie gefunden. Aber ihre Tochter fand sie.«
»Bingo«, erwiderte Pam.
Pams größter Fehler war nicht gewesen, dass sie die geheime Geschichte von Judy Gersten und Sal
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