70 - Der Weg zum Glück 05 - Das gefälschte Testament
Dir das Entsetzen, welches sich meiner bemächtigte!
Es gab eine fürchterliche, unbeschreibliche Szene zwischen mir und ihm. Er hat es mir nicht gestanden, aber ich ersah es aus seinem Verhalten und seinem höhnischen Wesen, daß er den einen Zeugen im unehrlichen Zweikampf erschossen und dem andern in der Schweiz aufgelauert hatte, um ihn vom Felsen zu stürzen. Wie und auf welche Weise es ihm dann gelungen ist, das echte Testament in seine Hände zu bringen und ein gefälschtes an dessen Stelle zu tun, das ist mir unbegreiflich. Er hat es mir natürlich nicht mitgeteilt.
Was sollte ich tun? Ihn anzeigen und in Armut und Elend versinken? Ich trug damals Dich unter dem Herzen. Und zu eben derselben Zeit wurde Herr von Sandau infam kassiert. Sollte er, der Verbrecher, das Vermögen erhalten?
Ich habe gekämpft und gerungen, aber nicht gesiegt, denn ich habe geschwiegen, während ich reden sollte. Später sandte ich Sandau, als er entlassen war und ich erfuhr, daß er seine Schande gern in Amerika vergraben wolle aber keine Mittel zur Überfahrt habe, tausend Taler, mit deren Hilfe es ihm möglich war, seinen Vorsatz auszuführen. Ich hörte, daß Emilie ihm einen Knaben geboren habe.
Wie ich nun gelebt und mich mit meinem Gewissen abgefunden habe, das will und kann ich nicht beschreiben. Nun stehe ich vor dem nahen Tod. Was soll ich tun? Soll ich als Mitwisserin jener Verbrechen sterben oder Dich dem Elend preisgeben? Das letztere kann ich nicht. Du sollst reich sein, bis Du alt genug bist, Dir Deinen eigenen Weg zu bahnen. Dann aber sollst Du das Vermögen den Sandaus zurückgeben. Jetzt gehört es mir. Ich vererbe es an Dich. Zwar wäre Dein Vater der natürliche Verwalter desselben. Er hat die Nutznießung davon zu beanspruchen. Aber ich weiß, wenn er das Geld in die Hände bekommt, so wird er bald ein Bettler sein und Du mit ihm.
Darum treffe ich in meinem Testament die Bestimmung, daß dieses Vermögen von einem Notar verwaltet und Dir übergeben werde, sobald Du das zwanzigste Jahr erreicht hast. Das hat Dein Vater unterschreiben müssen, denn ich drohte ihm, das echte Testament, welches ich damals an mich genommen und ihm nie wiedergegeben habe, dem Strafrichter auszuhändigen.
Ich habe es so versteckt, daß er es nicht finden kann. Du aber sollst es haben. Nimm mein in blauen Samt gebundenes Gebetbuch und schneide den hinteren Deckel ab. Er besteht aus zwei dünnen Pappen, zwischen denen das Testament eingepreßt ist. Du wirst denjenigen Gebrauch davon machen, welcher mir die ewige Ruhe und Dir die Ruhe deiner jungen Seele sichert.
Und nun lebe wohl, mein süßes, süßes Herzenskind! Indem ich unter bitteren Tränen dieses schreibe, liegst Du mit blühenden Wangen im Bettchen und schläfst den Schlaf der Engel. Deine Mutter aber fühlt den Tod mit kalten Knochenhänden nach ihrem Herzen greifen. Meine Sünden sind Unterlassungssünden. Ich habe sie um Deinetwillen auf meine Seele genommen. Gott wird mir ein barmherziger Richter sein. Er hat mir die Mutterliebe in mein Herz gepflanzt und wird mir vergeben, was ich aus Liebe tat.
Du aber, auch Du, mein Kind, gehe nicht zu streng ins Gericht mit Deiner Mutter. Vergib mir, damit ich auch droben Vergebung finde. Denke, daß ich immer bei Dir weile und daß mein Geist Dir immer und immer die Bitte zuflüstert: ‚Behalte mich trotzdem lieb, und bete für mich. Ich konnte nicht anders, denn ich hatte Dich ja so unendlich lieb!‘
Noch einen Kuß auf Deinen kleinen, süßen Mund, dann lege ich mich nieder, um wohl nimmer wieder aufzustehen. Meine Hände zittern vor Schwäche, und meine Augen fließen über vor Tränen. Die leidende Brust schmerzt mir vom Schreiben, und es geht eine eisige Kälte durch meinen Leib. Ist das die Kälte des Todes?
O mein Gott, wie schwer wird es einer Mutter, von einem geliebten Kind zu gehen – auf Nimmerwiederkehr! Die Lampe will verlöschen, und der Wind heult draußen um die Ecken. Es klingt wie die Posaunen des ewigen Gerichts.
Herr, mein Heiland, meine Seele schreit auf zu Dir um Erbarmen. Ich glaube an Dich, und ich halte Dich fest. Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn. Der Du zu dem armen Schacher sagtest ‚Wahrlich, wahrlich, heut noch wirst du mit mir im Paradies sein‘ und von der Sünderin ‚Ihr wird viel vergeben, denn sie hat viel geliebt‘, Du wirst mir Deine Barmherzigkeit nicht entziehen. Du bist auch für mich gestorben; auch um meiner Sünden willen hast Du gelitten. Ich schrei auf zu Dir.
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