71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
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Lieber Sohn! –“
„Halt!“ rief da der Sänger. „Ich glaube gar, der Brief ist – ist – ist –“
Er sprach den Satz nicht aus, und erst als der Baron ihn fragend anblickte, fuhr er fort:
„Von meinen Eltern.“
„Du hast deine Eltern noch?“
„Ja.“
„Aber davon hast du mir ja noch gar nichts gesagt!“
Der Sänger wurde verlegen. Er antwortete:
„Weil wir zufälligerweise noch nicht von meinen Familienverhältnissen gesprochen haben.“
„So! Nun, wenn der Brief von deinen Eltern ist, was sich allerdings aus der Anrede als ganz gewiß ergibt, so mußt du ihn selbst lesen. Hier ist er.“
Er reichte ihm den Brief hin. Der Sänger streckte bereits die Hand nach dem Schreiben aus, zog sie aber wieder zurück und sagte:
„Lies immerhin! Was die alten Leute mir zu schreiben haben, das sind ganz gewiß keine Staatsgeheimnisse.“
„Ganz wie du willst!“
Er begann abermals:
„Lieber Sohn!“
„Weil wir nicht schreiben können, haben wir den Herrn Pfarrer gebeten, diesen Brief an dich zu verfassen. Wir haben gehört, daß du in Amerika gewesen bist und da viel Geld verdient hast. Indessen ist es uns traurig ergangen. Du warst fort, und wir waren zum Arbeiten zu alt. Da hat uns die Gemeinde ernähren müssen.
Dann kam einmal die Muren-Leni zu uns, die eine Sängerin geworden ist. Sie sah unsere Not und hat viel mit uns geweint. Von dieser Zeit an haben wir alle Wochen fünfzehn Mark von ihr erhalten, wovon wir leben und uns sogar noch etwas sparen können. Gestern erfuhren wir, daß du wieder aus Amerika zurück bist und in Wien auf der Mohrengasse wohnst. Da haben wir es für unsere Pflicht gehalten, dir zu schreiben.
Der Vater ist immer krank gewesen, und der Mutter geht es nicht gut mit ihren Augen. Sie kann beinahe gar nichts mehr sehen. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, so wird sie dich wohl nicht mehr erblicken. Denn wenn es die Kunst einmal erlauben wird, an uns alte Leute zu denken, und zu uns zu kommen, dann wird sie entweder blind sein oder auch bereits lange nicht mehr leben.
Der liebe Herrgott mag dir Glück und Segen geben. Wir sind zufrieden, wenn er uns bald ein ruhiges und seliges Ende beschert.
Deine alten, alten Eltern.“
Als der Baron den Brief vorgelesen hatte, legte er ihn aus der Hand und blickte Criquolini fragend und erwartungsvoll an.
„Verdammte Geschichte!“ brummte dieser. „Hm! Es ist eben so gekommen.“
„Was?“
„Daß ich mich nicht habe um meine Eltern kümmern können. Ich habe sie ganz vergessen!“
„Wie ist das möglich?“
„Nimm es mir nicht übel! Aber diese Frage ist fast überflüssig. Wenn du meine früheren Verhältnisse – pah! Schweigen wir lieber! Es kommt nichts heraus dabei.“
„Ganz wie du willst. Aber hast du ihnen denn nicht einmal etwas geschickt?“
„Nein. Ich sagte dir ja bereits, daß ich mich auf sie ganz vergessen hatte!“
„Nach dem, was ich gelesen habe, müssen sie sehr arm sein?“
„Freilich sind sie das. Aber zu hungern haben sie doch nicht gebraucht. Du hast es ja gelesen, daß die Gemeinde sich ihrer angenommen hat. Und nun werden sie von der Muren-Leni unterstützt. Sie leiden also keine Not.“
„Wer ist dieses Frauenzimmer, welches eine Sängerin geworden ist und deinen Eltern wöchentlich fünfzehn Mark gibt?“
„Das ist – das ist – meine erste Geliebte!“
„Deine erste Geliebte? Mann, welch ein Glück hast du!“
„Wieso?“
„Eine Geliebte, die du also verlassen hast und die trotzdem deine Eltern ernährt! Sapperment! Das ist aller Ehren wert! So wohl wird es nicht gleich einem andern!“
„Grad ein Glück ist's nicht für mich. Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich meinen Alten selbst was schicken können. Sie hat sich eigentlich gar nicht in unsere Angelegenheit zu mengen. Sie mag für sich selbst sorgen. Sie will mich damit nur ärgern. Was gehen sie meine Eltern an? Nichts, gar nichts. Ich bekümmere mich doch auch nicht um ihre Angelegenheiten!“
„Aber, lieber Freund, wenn deine Eltern sich in Verhältnissen befunden haben, welche die Unterstützung seitens der Armenbehörden notwendig machten, so müssen sie doch sehr arm gewesen sein.“
„Nun freilich, Millionen hatten sie nicht besessen.“
„Was ist denn dein Vater?“
Der Sänger blickte eine Weile still vor sich hin. Seine Brauen zogen sich zusammen. Seine Mienen drückten den Widerwillen, sich über dieses Thema zu äußern, deutlich aus, er antwortete:
„Du kannst dir
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